Kapitel 2

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Naomi kam eine Minute bevor der Unterricht begann. Ihre Frisur war wie immer zerzaust und sie trug ein T-Shirt mit der Aufschrift 'better ugly than stupid', dass sich wohl einige in diesem Raum mal besonders angucken sollten. Während sie sich auf den Tisch neben mir fallen ließ und die Ledertasche auf den Boden warf, grinste sie mich breit an und begrüßte mich dann. "Hallo, südländische Schönheit." Mit einem Augenverdrehen nickte ich bei der Anspielung auf meine Herkunft aus Hawaii nur und antwortete ein "ebenfalls einen gesegneten Tag". Jetzt stöhnte die Blonde genervt auf, da sie an genau das dachte, was ich bezwecken wollte: ihre streng-gläubigen Eltern. Für mich grenzte es immer noch an ein Wunder, dass sie überhaupt in eine Schule gehen durfte, die nicht christlich sondern wissenschaftlich geprägt war. Die Gespräche verstummten mit dem Betreten des Raums von Professor Abrams, eine Frau in den fünfzigern mit einer Hochsteckfrisur, die anscheinend magisch war, denn sie verrutschte nie um auch nur einen Millimeter.

"Setzten sie sich auf Ihren Platz", merkte sie ohne eine Bewegung des Kopfes an und sah nach und nach alle Schüler an, die nicht auf ihrem regulären Platz saßen. Da an jedem Tisch nur eine Person saß und die Klassen aus nur 15 Personen bestanden, war es immer einfach, den Überblick zu behalten. Einer der vorderen Plätze war bisher leer. "Wo ist Arun?", lautete auch Mrs. Abrams erste Frage. Arun gehörte ebenfalls zu meinen Freunden. Der Name erklärte sich durch seine Herkunft: Seine Eltern stammten aus Indien und waren als er vier war mit ihm in die Staaten gezogen. Arun war eigentlich immer ein sehr pünktlicher Mensch, daher wunderte es mich, dass er zu spät war. Krank konnte er eigentlich nicht sein, da die Meldung bei dem zuständigen Lehrer bereits eingetroffen wäre.

Ein Klopfen. Fast synchron bewegten sich alle Köpfe der Klasse zur Tür. "Ja bitte?". Das Gesicht von Arun tauchte in der Tür auf. Mrs. Abrams Mund war fast ein Strich, wie sie ihn gerade zusammenpresste und ihn fordernd ansah. "Ich war beim Direktor mit Ben, meinem Bruder", erklärte der Inder mit seinem leichten Akzent, den er trotz des langen Aufenthalts hier immer noch hatte. Bruder? Seit wann hatte Arun eigentlich einen Bruder namens Ben? Ich kannte ausschließlich seine Schwester Priya, die bereits studierte. Arun und ein Unbekannter, anscheinend also Ben, betraten den Raum. Beim Anblick des Bruders kniff ich die Augen verwundert zusammen und sah zunächst zu Arun und dann wieder zu Ben. Auch in den Gesichtern der anderen sah ich eine Frage stehen. Der neue Junge hatte absolut gar keine Ähnlichkeiten mit Arun. Letzterer war etwa 1.90 Meter groß und sah aus, wie man sich einen typischen Inder vorstellen würde. Gebräunt, dunkle Haare und Augen. Ben hingegen war deutlich kleiner als Arun und außer der ansatzweise gleichen Haarfarbe sahen sie sich in keinerlei Hinsicht ähnlich. Der neue hatte eine so helle Haut, als würde er nie an die Sonne kommen und eine ganz andere Gesichtsform als Arun, dessen Gesicht eher einem Quadrat glich. "Ihr seid.. Geschwister?", traute sich jetzt Sandie zu sprechen, ein dunkelblonde Mädchen mit dem ich nie zu tun gehabt habe. Jetzt sprach der Dunkelhaarige zum ersten Mal. "Ja, quasi Fern-Geschwister, ist eine sehr lange Geschichte."
Er hatte irgendwas in der Stimme, das seltsam klang. Irgendein Akzent, den ich nie zuvor gehört hatte. "Sie sind jetzt hier in der Klasse?", merkte Mrs. Abrams neutral an, als würde es sie nicht wundern, was sie gerade erzählt hatten. Ben nickte heftig, worauf sich eine kleine Haarsträhne aus der Frisur löste, und ihm ins Gesicht fiel. Vermutlich war ich dabei aber auch wieder die einzige, die das bemerkte. Aus unerklärlichen Gründen hatte ich schon immer alles beobachtet und mitbekommen. Oft tat ich einfach so, als würde ich Dinge nicht sehen, aber ich sah sie, fast immer. Die Frage, warum viele Menschen so unaufmerksam sind hatte ich mir schon einige Male gestellt und bisher noch nie eine Antwort darauf gefunden. Was ebenfalls ziemlich seltsam an der Sache war, und was mir gerade durch den Kopf schoss, als die grauhaarige Lehrerin ihm einen Platz zuwies, war die Tatsache, dass er mitten im Schuljahr an die Schule gewechselt war. Eigentlich war daran nichts besonders, aber die Bronx School of Science war eine Ausnahme. Es gab nämlich einen Prozess, in dem ein Test geschrieben wird, und daraus wurde ermittelt, ob ein Schüler an die Schule wechseln darf. Daran mochte zunächst nicht besonders sein-was aber seltsam war, war die Tatsache, dass dieser Test immer im September stattfindet und auch nur an einem bestimmten Tag. Wie also war Ben mitten im Schuljahr und ohne das Examen hier hinein gekommen? Mrs. Abrams hatte Ben mittlerweile einen Platz zugewiesen und dieser setzte sich an den Tisch neben mich. 

"Hi", begrüßte ich ihn, ohne zur Seite zu blicken, während unsere Lehrerin etwas am Computer öffnete und auf eine Leinwand übertrug. Murmelnde Gespräche ergaben sich, da sie gerade nicht aufmerksam war. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er mich anstarrte. Okay, fairerweise musste man sagen, es war kein Starren, sondern mehr ein freundlichen Anblicken. Mit einem fragenden Blick wandte ich den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen. "Hey", lächelte er. Anscheinend war er auch keiner der Menschen, die mit Zähnen lächelten. Bei ihm verzogen sich ausschließlich die Mundwinkel nach oben und mehr nicht. "Wie..", begann ich die Frage, die ich mir gerade selber gestellt hatte, wurde dann aber von Mrs. Abrams unterbrochen, die die  Präsentation gestartet hatte und mich jetzt durchdringend ansah.  "Ihr Gespräch ist bestimmt amüsierend, aber hier vorne ist es mindestens genau so spannend." Nickend gab ich ihr Recht und blickte kurz verstohlen zu Ben, der fragend die Augenbrauen zusammen gezogen hatte. Ich imitierte seine verwirrte Mimik fast perfekt, als wollte ich zurück fragen, was denn los sei.

In der fünfminütigen Pause, die es zwischen einer Doppelstunde immer gab, drehte ich mich gegen Ende ein weiteres Mal zu ihm hin. Arun hatte zunächst sich mit ihm unterhalten, während mir Naomi von ihrem Wochenende erzählt hatte. "Also, was ist hier los? Wie bist du hierher gekommen?"  Er lächelte zunächst nur, bis er schließlich antwortete.


undercover; tom hollandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt