Kapitel 30

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Der Braunhaarige lächelte mir zu: "Das freut mich zu hören." Einige Sekunden herrschte Stille, die er schließlich brach. "Das soll jetzt nicht die Stimmung kippen, aber wie ist es jetzt eigentlich mit...Richard weitergegangen?" Bei der Erwähnung des Namens dachte ich zurück an die letzte Nacht, in der ich ihn gesehen hatte. "Er liegt im Koma und wird da auch ziemlich sicher nicht mehr draus aufwachen. Ich sollte mich eigentlich traurig fühlen, aber kann es einfach nicht." Dass ich mich dafür schlecht fühlte, ließ ich aus. Vielleicht sollte ich traurig sein, immerhin war er für mehrere Jahre eine Art Ersatz-Dad gewesen. Auf der anderen Seite hatte ich ihn aber nie als Vater sehen können, weil ein zu einem Vater für mich immer das Bild der glücklichen Familie gehört hatte. Das war bei Richard nie der Fall gewesen.

"Immerhin geht es euch dann auf längere Sicht besser", merkte er an. Ob er damit recht hatte? Immerhin verdiente Mom wenig und dass dieses Geld reichen sollte, bezweifelte ich eher. Ich würde auch in der ersten Zeit von der Ausbildung nicht viel verdienen. Mittlerweile hatte ich auch eingesehen, dass es vergeblich war, meinem Traum, Ärztin zu werden, hinterher zu trauern. Es war schlichtweg unmöglich und ich würde mir eine gute Ausbildung suchen, um für Mom und mich etwas zum Einkommen beizusteuern. "Hoffentlich", entgegnete ich nur und sofort verzog sich sein Gesicht fragend. "Weshalb das denn?"-"Ist wieder die alte Leier mit dem Geld", antwortete ich und verdrehte die Augen. Eigentlich wollte ich über dieses Thema aber auch gar nicht reden.

"Hmm", ertönte nur von Tom, während dieser anscheinend angestrengt über etwas nachdachte. Wir redeten noch bestimmt zwei Stunden über fast schon belanglose Themen und vergaßen dabei die Zeit komplett. Irgendwann sah Tom auf sein Handy und blickte erstaunt auf.

"Es sind schon zehn Uhr", erklärte er auf meinen fragenden Blick. "Musst du schlafen gehen?", grinste ich, woraufhin sofort ein belustigt-genervter Blick zurückkam. "Ha-Ha, sehr lustig", antwortete er ironisch, lächelte dabei aber. "Wollen wir noch ein bisschen nach draußen gehen?", schlug er dann vor und ich nickte. Zeitgleich schoben wir unsere Stühle nach hinten und zogen die Jacken an. Der Kellner hatte uns zuvor bereits ein Zeichen gegeben und damit gefragt, ob wir Zählen wollten. Daher gingen wir jetzt zum Tresen und Tom zog sein Portmonee hervor. "Du brauchst nicht-", begann ich und wollte eigentlich fragen, ob wir uns die Rechnung nicht teilen sollten- das bisschen Geld für ein chinesisches Essen konnte ich schließlich auch aufbringen. "Alles gut, ich habe einen Gefallen bei dir frei, ok?", lächelte er, während er den Kopf zu mir drehte.

"Alles klar", nickte ich und er drehte den Kopf wieder zum Kassierer, wodurch ich genau auf mein Seitenprofil blickte. War mir je aufgefallen, wie markant seine Kinnpartie war? Irgendwie seltsam, weil seine Wangen nicht danach aussahen, als würde seine Jawline fast in einem rechten Winkel zu einander stehen. Warum genau machte ich mir darüber eigentlich gerade Gedanken? Andererseits: warum sollte mir so etwas nicht positiv auffallen?

"Kommst du?", fragte mich Tom und riss mich damit aus den Gedanken über sein Kinn. Glücklicherweise sonst wären vermutlich noch einige seltsamere Gedanken hinzugekommen.

Mit einem lauten Geräusch schlug die Tür hinter uns zu und ich inhalierte einen tiefen Atemzug der frischen Luft. Im Restaurant war es, obwohl es mir nicht einmal aufgefallen war, sehr warm und stickig gewesen.

"Welche Richtung?" Tom sah einmal nach rechts und dann nach links. "Rechts", entschied er und nebeneinander liefen wir über einen kleinen Schotterweg unter Bäumen und an Häusern vorbei. In diesem Teil der Bronx kannte ich mich nicht aus, ich wusste nur, dass irgendwo hier bald ein Fluss kommen würde.
Einige Minuten später sahen wir besagten Fluss. Am Ufer dessen standen einige einsame Parkbänke, die nur durch spärliches Laternenlicht erhellt wurden.

Wir setzten uns jedoch nicht hin, sondern folgten dem Kiesweg am Fluss entlang. Aus Versehen schlug ich mir meiner Hand gegen seine. "Sorry", murmelte ich, um die Stille nicht zu unterbrechen. "Alles gut", entgegnete er und nahm dann meine Hand in seine. "Nur damit du mich nicht mehr schlägst", lächelte er auf meinen Blick zu ihm. "Klar, sicher doch", grinste ich ebenfalls. Der kleine Moment würde jedoch plötzlich durch einen Knall unterbrochen. "Was war das?", fragte ich panisch und blickte mich um.

Tom sah ebenso verwirrt aus und musste dann aber lachen. "Guck mal!" Ein Feuerwerk. Keine Schießerei oder was man sonst erwarten könnte. Man konnte es von unserem jetzigen Punkt jedoch nicht wirklich sehen. "Da hinten", rief ich schließlich, nachdem wir einige Meter weiter gelaufen waren. Es handelte sich um eine Art kleinen Club, den man von weitem sah. Von einem Steg aus wurden gerade Raketen gezündet.  Die Raketen schossen in den Himmel, wo sie dann in Abermillionen goldene, rote und blaue Teilchen zersprangen und wieder auf den Boden fielen. Es waren vielleicht 200, vielleicht auch 400 Meter bis zu dem Bootshaus, aber anhand von meinen und Toms leuchtenden Augen hätte wohl jede Person erraten können, was wir vorhatten.

"Komm", rief ich ihm zu und zog ihn dann mit, da wir schließlich immer noch an den Händen hielten. Er machte zunächst erst größere Schritte, begann dann aber auch zu laufen.

Außer Atem und mit einem glücklichen Lächeln kamen wir schließlich am Club an, aus dem bereits Musik schallte. "Kommen wir da überhaupt rein?", fiel Tom jetzt plötzlich auf und ich zuckte die Achseln. "Wir werden es sehen." Bei diesen Worten wunderte ich mich über mich selbst. Seit wann war ich, die Streberin der Schule, die nie etwas unternahm und verklemmt wie ein Mensch des 15. Jahrhunderts war, eigentlich so offen und nicht mehr misstrauisch gegen über praktisch allem, was gerade geschah? Vielleicht lag es daran, dass ich endlich mal aus meinem Schutzmantel herausgekrochen kam, oder an Toms Gesellschaft, oder einfach einem Zusammenspiel aus allen Faktoren um mich herum.

Da vor der Tür kein Türsteher oder ähnliches stand, betraten wir das Haus einfach und sahen uns dann um. Viele Menschen. Sowohl junge als auch alte, von jeder Altersgruppe war mindestens eine Person dabei. Die Menschen machten kein Hehl daraus, ob eine Person jung oder alt, schwarz oder weiß oder  dick oder dünn war, jeder tanzte gerade mit jedem und ausschließlich alle waren glücklich. Ich lachte befreit auf. Die Umgebung hatte auch auf mich eine gewisse Wirkung. "Scheint in Ordnung zu gehen", rief Tom mir durch den Lärm zu und ich schrie fast schon eine Antwort: "Ja, denke auch." Da wir aber eigentlich wegen des Feuerwerks hier waren, machten wir uns auf den Weg durch die Tanzenden zum Hinterausgang, wo es zu dem Steg gehen sollte.

undercover; tom hollandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt