Kapitel 60

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"Was ist bei dir gerade so los?", fragte ich Naomi, um vom Thema Tom abzulenken und ein wenig mehr über ihr Leben zu erfahren. "Alles paletti. Habe den Rest für den Umzug fertig und werde mich dann seelisch darauf vorbereiten, Mom und Dad davon zu erzählen, dass ich aus der Kirche austreten werden." Eine Nachricht, die Naomis streng katholische Familie wohl nicht so einfach aufnehmen würde.

"Tja dann viel Glück", meinte ich und sofort lenkte sie das Gesprächsthema zurück zu Tom. "Was meinst du mit 'er ist kaputt?'" Ich zuckte die Achseln: "Ich war heute kurz bei ihm und er war betrunken und wirkte so, als hätte er sich sehr verändert. Mal sehen wie er morgen früh so drauf ist."

Sie nickte und drehte dann den Kopf zur Seite. Mit kurzer Verzögerung kaute sie auf einer Sushi-Rolle herum und drehte sich dann zurück zu mir.

"Wann bist du wieder hier? Ich vermisse unsere nächtlichen Film-Marathone." Seit sie sich Netflix angeschafft hatte, verbrachten wir jeden zweiten oder dritten Abend zusammen und sahen uns gemeinsam mit Essen mehrere Filme oder Folgen einer Serie an. Da sie ein Abonnement hatte, hatte ich auch nie den Sinn gesehen, es mir selbst zu kaufen, ich sorgte immer für genug Essen bei den Abenden.

Dies war noch ein Indiz dafür, dass sich viel in letzter Zeit geändert hatte- solche Abende wären für Vergangenheits-Arylia undenkbar gewesen.

"Ich weiß es ehrlich gesagt nicht", antwortete ich auf ihre Frage, "Mal sehen, vielleicht ist die Sache ja schnell durch. Ich hoffe es."-"Also willst du nichts mehr von ihm? Alle Gefühle weg?" Sie sah mich mit hellbraunen Augen durchdringend an und wandte auch dann den Blick nicht ab, als ich mich aufsetzte und mit dem Rücken an eines der Kissen lehnte.

"Ich weiß es nicht. Absolut...Ich", ich atmete kurz ein und begann den Satz dann erneut. "Ich habe keine Ahnung, was bei mir gerade los ist und wie ich morgen aus der Situation wieder rauskomme. Wir werden sehen, nicht wahr?"

Sie nickte und wandte den Blick zur rechten Seite ihres Zimmers. Ein wenig verzögert kam auch ein Klingeln durch meinen Laptop. "Ich bin mal los, Mom wollte mir beim Umräumen helfen." Schnell verabschiedete ich mich und sah dann nur noch ihren Finger, der sich zum Auflegen-Knopf bewegte, bevor das Bild schwarz wurde.

Mein Blick verharrte lange auf dem Blackscreen, nicht weil er so spannend war, sondern weil mich ihre Worte nachdenklich gemacht hatten.

Was würde morgen passieren und vorallem: wie würde ich auf all das reagieren? Mir war klar, dass ich ihm verzeihen würde. Ich selbst wollte diese ganze Situation auch abschließen.

Die Sache, die mich jedoch nicht losließ, war die Frage, ob ich es mit ihm noch einmal versuchen würde, wenn er dafür bereit wäre. Wäre ich bereit, über diesen Verrat hinwegzusehen, all den Schmerz, den er mir gebracht hatte? Diese Frage konnte und wollte ich einfach nicht beantworten. Vielleicht war es morgen soweit, vielleicht übermorgen, vielleicht aber auch nie und ich verharrte ewig in diesem Zustand. Die Zukunft war ungewiss, dies bewieß meine Situation nur zu gut.

Am nächsten Morgen weckte mich Harrison mit einem ernergischen Klopfen an der Tür. Von insgesamt zehn Stunden hatte ich vielleicht die Hälfte geschlafen, da ich durch den Jetlag nicht besonders müde in den ersten Stunden gewesen war.

"Wir sollten besser jetzt los", ertönte dann auch seine motivierte Stimme, woraufhin ich mich nur mit einem genervten Murmeln aus dem Bett hiefte und mir im Bad ersteinmal eine Ladung Wasser ins Gesicht schaufelte.

"Ich brauche Kaffee", grummelte ich zu Harrison, nachdem ich aus seinem Zimmer getreten kam, mittlerweile mit einem beigen Pullover und einer schwarzen Skinny-Jeans bekleidet. Er streckte mir lächelnd einen großen Becher mit dem Aufdruck ‘Costa Coffee’ zu, von dem ich sofort einen großen Schluck nahm.

Bedanken tat ich mich nur durch einen Blick, da ich viel zu sehr mit der Aufnahme des Koffeins beschäftigt war, das mich wach machen sollte.

"Können wir?", fragte er mich mit einem belustigten Blick, während ich den Kaffee beinahe herunterexte. Zwischen zwei Schlücken antwortete ich schnell: "Ja", und trank dann weiter. Um meine Schuhe anzuziehen, setzte ich den Becher ab und stellte ihn auf einen Tresen, um ihn gleich wieder an mich zu nehmen.

Dann gingen wir nebeneinander zu Harrisons Auto, das uns zu Tom bringen würde. Dass ich bisher nichts richtiges gefrühstückt hatte, störte mich nicht besonders, da für mich das Frühstück nie eine sonderlich wichtige Mahlzeit gewesen war. Ich würde einfach später frühstücken, immerhin war der Vormittag noch lang.

Ebenso lang war die Strecke zu Toms Haus. Gestern noch kam es mir vor wie Sekunden, in denen man von Haz zu Tom gelangte, gerade fühlte es sich eher so an, als wären wir schon eine halbe Stunde unterwegs.

"Ich lasse dich nur raus, ich muss zur Uni. Viel Glück." Mit dem Getränk in der Hand öffnete ich die Tür, winkte dann dem abfahrenden Auto und drehte mich zur Haustür.

Arylia, du schaffst das, machte ich mir selbst Mut und wiederholte diese Wörter wie ein Mantra in meinem Kopf. Ich wusste, dass es anders sein würde als gestern, da er nüchtern sein würde und es endlich zu diesem Gespräch kommen würde, dass wir uns gegenseitig schuldeten.

Trotzalledem war ich nervös, nervös darüber, dass ich seine Reaktion nicht kannte und schlichtweg alles passieren könnte.

Letztendlich machte ich den entscheidenen Schritt auf die Tür zu und bewegte meinen Finger zur Klingel, auf der ein kleines Schild mit der Aufschrift ‘Holland’ stand.

Obwohl ich wusste, dass dies sein Name war, fühlte es sich immer noch nicht so an, als ob sein Vorname und sein richtiger Nachname wirklich zusammengehören. Es waren wie zwei lose Fetzen, die ich einfach nicht verbinden konnte und die im Raum herumschwebten, während sie einfach darauf warteten, von mir gegriffen und zusammengefügt zu werden.

Ein gedämpftes Klingeln ertönte, als ich den Knopf eindrückte und verstummte dann wieder, als ich beide Hände zu meinem Kaffebecher hob und diesen nervös umschloss.

Aus dem Haus hörte ich zunächst ein leises Poltern und dann die Türklinke. Diese wurde heruntergedrückt und dann, endlich, öffnete sich die Tür und das Gesicht, dass ich in und auswendig kannte, blickte mich an.

Auch wenn ich nicht begabt war, was Zeichnen anging, würde ich behaupten, dass ich Toms Gesicht in jeder Facette wiedergeben könnte.

"Arylia?" Es war das erste Mal, dass ich seine Stimme unverändert und ohne Alkohol hörte. Ich konnte nicht verhindern, dass mir eine Träne in die Augen schoss.
"Hey", murmelte ich mit einem schüchternen Lächeln.

Tom sah mir in die Augen und schloss dann die Tür vor meiner Nase.

undercover; tom hollandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt