Zeit

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》Und es braucht Zeit und es braucht Mut. Und ein bisschen mehr, als ich alleine hab'.《
                             ~Song für Mia

***

-Sevi
,,Hmmm...", murmle ich und betrachte sein Gesicht. Bedeutet dieser Kuss jetzt, dass er mich mag...? Oder hatte er da gerade einfach Lust drauf und wollte es ausprobieren? Und was ist eigentlich mit mir selber...? Ich habe sehr viel dabei gefühlt, oh ja. Ich hätte ihn am liebsten verschlungen. Ob es ihm ernst mit mir ist? Ist er schwul? Bin ich schwul? Ist es falsch, eine gleich geschlechtliche Person zu lieben? Bin ich doch bi? Ich hatte ja schon Freundinnen... Meine Gedanken kommen nicht zum Stehen. Sie drehen sich im Kreis.
,,Hey... Sevi. Worüber denkst du nach?", fragt er und streichelt vorsichtig und verunsichert meine Wange. Ich schaue ihm tief in die Augen.
,,Antworte ehrlich. War dir das eben gerade ernst oder bin ich nur ein kleiner Flirt für zwischendurch?" Seine Augen weiten sich und seine Hände rutschen von meinem Gesicht.
,,Was? Das kann ich doch nicht-"
,,Antworte. Jetzt."
,,Ich... Sevi... Ich will dich auf keinen Fall verletzen , aber..." Meine Sicht wird verschwommen. Tränen steigen mir in die Augen, wissend, was jetzt kommt. Ich kämpfe sie zurück.
,,Ich weiß nicht, was das gerade ist. Vielleicht kann ich es dir irgendwann mal sagen... Ich sagte ja, ich kann es nicht definieren. Das heißt aber nicht, dass ich dich nicht mö-"
,,Schon kapiert.", flüstere ich rau und trete vom ihm zurück. Heiße Tränen rinnen über meine Wangen. Warum kannst du nicht einmal deine Gefühle im Griff haben??
,,Sevi, ich wollte doch gar nicht-"
,,Ist schon okay, Malte. Man sieht sich oder so.", sage ich monoton und renne davon, während immer noch die Nässe meiner Tränen meine Wangen benetzt.

-Malte
"SEVI?!" brülle ich hinterher, aber er reagiert nicht. Ich kann doch nichts dafür, wenn ich meinen Gefühlen nicht bewusst bin. ICH WAR NOCH NIE IN EINEN MANN VERLIEBT, VERDAMMT. Ich stopfe mir meine Kopfhörer in die Ohren und lasse mich von meiner Musik berieseln. Lonely Hunter von Foals. Allein. Na vielen Dank auch. Die Musik verstummt, ich werfe mir meine Kapuze über den Kopf und mache mich auf den Heimweg. Severin. Severin. SEVERIN. VERDAMMTE SCHEIẞE.

-Sevi
Die Musik aus meinen Kopfhörern dröhnt in meinen Ohren. I loved you since I knew ya. I wouldn't talk down to ya. I have to tell you just how I feel. I won't share you with another boy.... Ich versuche mich abzulenken, aber selbst die verdammte Musik scheint mich auszulachen. Meine Gedanken kreisen um Malte. Seine blauen Augen, sein Lächeln, die zwei Grübchen, seine weichen Hände. Du bist verliebt. Schlagartig steigt der Gedanke in meinem Kopf auf und kaum ist er da, werde ich ihn nicht mehr los. Du bist verliebt. Du bist verliebt. Du bist verliebt.
Ich erreiche unsere Altbauwohnung.

-Malte
Der Bürgersteig ist gut gefüllt und mich treffen tausende Blicke. Als würden sie alle schreien: "HA! DER HAT SICH IN EINEN MANN VERLIEBT. ICH DACHTE, WIR STEHEN AUF FRAUEN, MEIN GUTER. SCHEIẞ HOMOS. NA? WAR ES SCHÖN, IHN SO ZU VERLETZEN UND IHN EINFACH GEHEN ZU LASSEN? EKELHAFT SOWAS!" Die Gedanken bringen meinen Kopf fast zum platzen und ich schlage verzweifelt die Hände vor's Gesicht. Fast blind erreiche ich 5 Minuten später unsere WG. Oben angekommen, werfe ich meine Sneaker in den Flur und springe unter die Dusche. Lasst uns die Gedanken wegwaschen.

-Sevi
Mein Bett begrüßt mich und nimmt mich fast wie eine Mutter in den Arm. Ich stöhne auf und wälze mich hin und her. Die Gedanken verschwinden dadurch nicht. Ich kann förmlich hören, wie die Bruchstücke meines Herzens in meiner Brust klirren. Jetzt komm mal wieder runter von deiner Melancholie. Was macht das schon aus? Du kennst ihn erst seit gestern...? Wenn er nichts von dir will, dann soll er eben nichts von dir wollen, kann dir doch egal sein. Aber es ist mir eben nicht egal... Ob er an mich denkt?
Ich muss mit jemandem reden. Meine Gefühle für mich behalten, konnte ich noch nie gut. Aber wer...? Schließlich stelle ich fest, dass es niemanden gibt, den ich anrufen könnte, und versinke wieder in Selbstmitleid.

-Malte
Nach einer ausgiebigen Dusche, wähle ich Hennings Nummer. Er nimmt ab. "He, Henning.. ich äh.. ach egal." Ich lege wieder auf und schüttel den Kopf vor lauter Dummheit. Wie bescheuert war das denn grad? Mit einem Handtuch bekleidet, wage ich den Weg in die Küche zu meinen Mitbewohnern. Kaden und Leo sind mitten im Gespräch, als ich ins Zimmer platze. "Joooo, Malte. Was geht?", ruft Kaden mir zu, während er das Abendessen vorbereitet. "Hab gehört, ihr versteht auch alle richtig gut und habt schon zusammen gejamt. Wenn das mal nicht was wird!" Ihr versteht euch alle richtig gut... "Hmm." ist das Einzige, was er als Antwort bekommt. Ich schnappe mir einen Apfel und gehe in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Ihr versteht euch alle richtig gut.. wenn das mal nicht was wird.. VERDAMMT. Wütend haue ich mit meiner Faust gegen meinen Kleiderschrank und ein stechender Schmerz durchfährt direkt meine Hand. "SO'N DRECK MAN!"

-Sevi
Die Tür knarzt. Augenblicklich werde ich aus meinem Schlaf gerissen. Malte steht in der Tür. ,,Hey... Also ich... Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass das mit uns nichts werden kann. Ich stehe auf Frauen. Es hat sich nur gerade so schön angeboten, dich vor den Homophoben zu küssen." Ich halte mir die Ohren zu. ,,Hör auf!", schreie ich. In meinen Ohren fiebt es. ,,Aber Severin... Sei nicht traurig. Du findest bestimmt jemand anderen." ,,Aber niemand wird so sein, wie du... Malte... Komm her. Bitte. Küss mich noch einmal." Er tritt an mein Bett und ich will nach ihm greifen, aber plötzlich liegen zwischen uns mehrere Meter. Er ist weit entfernt. ,,Malte! MALTE!", brülle ich und wache schweißgebadet auf. ,,Fuck...", flüstere ich. Der Wecker zeigt 18 Uhr an. Ich habe eine Stunde geschlafen.

-Malte
Nachdem ich mich angezogen habe, wähle ich erneut Hennings Nummer. "Ja, ich nochmal. Sorry. Kannst... Ist Sevi da?" Meine Gedanken kreisen um den Kuss, um den Abgang vom ihm und die vielen Leuten im Park, auf der Straße, im Plattenladen. Hoffentlich kann Henning keine Gedanken lesen.
"Ich schau mal, warte..." Henning schnauft und ich kann deutlich seine Schritte auf dem alten Parkett hören.

-Sevi
Meine Tür knarzt. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Henning steht in der Tür. ,,Hey. Hier ist Malte am Telefon und möchte mit dir reden." Ich hätte keine gute Begründung für Henning nicht den Anruf anzunehmen.. ,,Hmpf... Gib her.", brumme ich und merke, wie meine Beine vor Aufregung anfangen zu schlottern. Henning reicht mir das Telefon und schließt anschließend die Tür hinter sich. Es herrscht Stille am anderen Ende der Leitung, bis wir beide gleichzeitig anfangen zu reden.

-Malte
"Weißt du.. ich.. äh.. also.. es tut mir leid.. ich.. ich weiß doch auch nicht. Wenn du das hier nicht willst, sag es mir.. ich.. wir brauchen Zeit.. Zeit, ja! Alles neu... Richtig? Neu. Für dich. Für mich. Für uns. Wir, äh...Sevi?"
Mein Atem pfeift durchs Telefon. Wir fallen uns ständig ins Wort, sagen dabei aber eigentlich nichts. Es macht nicht viel Sinn, was wir hier von uns geben, aber es tut gut. Bist du noch dran?

-Sevi
,,Ja... Zeit wäre gut, aber warum hast du das nicht gleich gesagt?"
,,Ich.. Ich bin mir sehr unsicher in dem allen... Hier. Vielleicht... Vielleicht sollten wir von vorne anfangen? Diesen Kuss vergessen und uns wie normale Freunde behandeln...?" Stille. Wie normale Freunde... Mein Herz klirrt erneut. Es reißt meinen Brustkorb blutig auf und hinterlässt nichts als Schmerzen.
,,Ja... Gefühle vergessen. Neuanfang. Okay.", flüstere ich heiser und reibe mir über die Augen.
,,Okay.", flüstert Malte und legt auf. Stille. Die Geräusche der Einsamkeit lullen mich ein. Decken mich warm zu. Das Handy gleitet auf den Tisch neben meinem Bett. Der Nebel meiner verletzten Gefühle umhüllt mein Herz. Bettet es zu. Verschließt meine Liebe in einem Tresor mit drei Sicherheitsschlössern. Den Kuss vergessen... Mein Herz liegt in Stücken zerissen im Safe. Wartet auf Erlösung. Auf Liebe. Ich dämmre ein.

-Malte
Vielleicht möchte ich diesen Kuss aber nicht vergessen? Vielleicht möchte ich nicht so tun, als wären wir nur Freunde. Wir waren DAVOR ja nicht mal Freunde. Ich soll vergessen? Das? WIE? Leo ruft zum Essen und ich falle aus der Blase voller Gedanken. Ich stochere im Essen rum und lasse die Blicke meiner Mitbewohner über mich ergehen.
"He Malte! Schau mal! Guck Mal! Hab ich dir schon erzählt, dass.." Interessiert mich nicht.
"Hmm. Ja. Ja. Natürlich. Ja. Witzig. Ja." Unsere Blicke treffen sich.
"Boah, du bist ja heute nicht so der beste Gesprächspartner." Ach was? Ich schiebe meinem Teller zur Seite, stehe auf und gehe zurück in mein Zimmer, um zu schlafen. Wenn man traurig ist, schläft man auch schon mal um 18 Uhr, nicht?

Liebe auf den zweiten Blick [✔]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt