8 Stunden

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Seit einer geschlagenen Stunde sitzen wir an unserem blöden Tagebuch, ohne über das zu sprechen, was wie ein gewaltiger Elefant zwischen uns im Raum steht. Es macht mich so verrückt und sein undurchdringlicher Blick lässt mich mit der Frage zurück, ob es ihm genauso geht. 

"Würdest du heute mit mir zum Mittag essen?", fragt er leise ohne von seinem Schreibblock aufzusehen. 

Ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke, als ich mich räuspere und verwirrt zu ihm sehe. "Was?", hauche ich. 

"Ob du heute mir mit zum Mittag essen würdest", wiederholt er angespannt. 

Insgeheim bin ich dankbar dafür, dass er die Initiative ergreift, aber die Vorstellung mit Ben alleine zum Mittag zu essen, macht mir irgendwie Angst. 

"Okay", nicke ich und hoffe, dass mein Mut belohnt wird und wir mit unserem Gespräch dort weiter machen, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben. Die Fragen in meinem Kopf sind ganz sicher nicht weniger geworden. 

"Okay", haucht er und schaut mich immer noch nicht an. Ich könnte schwören, seine Mundwinkel haben gezuckt. 

Es vergehen einige stille Minuten zwischen uns, bis er sie erneut bricht. "Wir essen aber nicht hier in dieser widerlichen Kantine"

"Du weißt, dass wir das Gelände nicht verlassen dürfen", erinnere ich ihn und diesmal schaut er mit einem verschmitzten Grinsen in meine Richtung. 

Ich schüttle den Kopf. "Ben, was wenn sie uns später nicht mehr reinlassen? Meine Tante würde mich umbringen" Er legt den Kopf schief und leckt sich spielerisch über die Lippen. "Das wird kein Problem sein, vertrau mir" 

Mit einem Augenrollen und Schnauben schüttle ich den Kopf. Worauf hatte ich mich da nur eingelassen? 

Das lang erwartete Klingeln zur Pause ertönt und er wartet ungeduldig, während ich meine Sachen zusammenpacke. 

"Also, wohin gehen wir?", frage ich, während ich ihm in den Flur folge. "Das wirst du schon sehen", antwortet er knapp und erhöht das Tempo, sodass ich kaum hinterher komme. 

Ich bin fast schon beeindruckt davon, wie er immer wieder auch die kleinsten Fragen mit so wenig Inhalt beantworten kann. 

Ben führt mich in den gegenüberliegenden Flügel der Schule, in dem ich zuvor noch nicht war. Er öffnet mit einem Ruck eine Tür des Notausganges und ich weiche zurück, bereit aufgrund des angehenden Alarms wegzurennen - doch nichts passiert. 

"Ich dachte, die sind alle alarmgesichert?", frage ich, als ich merke, dass kein Alarm eintreten wird. "Alle bis auf die hier, die haben die Idioten vergessen", grinst er und lädt mich mit einer Handbewegung ein, vor ihm durch die Tür zu gehen. 

Wir gehen ein Stück und kommen an einer Hipster-Kette vorbei, an der es frische Sandwiches und Wraps gibt. Er bittet mich, draußen zu warten und kommt mit einer Tüte voller Essen wieder. 

Wir gehen weiter, bis wir an einer Art Trabrennbahn ankommen. Dort setzen wir uns auf die Tribüne und packen unser Essen aus. "Ich hätte niemals gedacht, dass du auf so Hipster-Ketten stehst.", lache ich. "Was soll ich machen? Da gibt es eben die besten Sandwiches in diesem Kaff". Er hat recht, die Sandwiches sind wirklich verdammt gut. Während wir essen, herrscht ein angenehmes Schweigen zwischen uns und zum ersten Mal fühle ich mich wohl in seiner Nähe. 

"Wieso gehst du eigentlich zur Schule?", frage ich und merke, dass das ziemlich dämlich klingt. 

"Du meinst, weil ich ein Gangster bin und die eigentlich nicht zur Schule gehen?" Ich werde rot und hoffe, er wird nicht sauer oder bricht unser gemeinsames Essen hier ab. Bei ihm weiß ich nie, wann er Spaß versteht und wann nicht. 

"Nunja, mein Bruder hat viel für mich getan, damit ich überhaupt die Möglichkeit hatte, zur Schule zu gehen. Ich tue es seinetwegen. Es ist nicht immer einfach, dort aufzutauchen, aber ich hab's ja bald geschafft." 

Wir reden weiter über Oakland, die Schule, die Sandwiches... ganz normale Dinge und ich vergesse fast, was die Tage davor los war. 

Mein Handy vibriert und ich hole es aus der Tasche. Nachricht von Tyler. Ich sehe aus dem Augenwinkel genau, dass Ben auf mein Handy starrt. 

"Datest du ihn?", knurrt er. Ich muss einfach schmunzeln. "Nein, ich date ihn nicht. Ich habe ihn Samstag das erste Mal getroffen. Er ist nett, aber das wars." 

Er nickt zustimmend, als hätte ich die richtige Antwort gegeben. 

"Wieso wäre es schlimm, wenn ich ihn date?", frage ich provokant. 

"Es wäre nicht schlimm, du kannst tun und lassen, was du willst...", antwortet er mit halb vollen Mund und zerknüllt die Verpackungen seiner Hand. 

"Ben, ich verstehe es nicht. Ich kann tun und lassen, was ich will, aber wenn ich eben genau das tue, bist du sauer und abweisend." 

Er spielt nervös mit den Fingern auf seinem Bein und schaut in die Ferne. "Du hast Recht." 

"Ich habe was? Was hast du gerade gesagt?", sage ich und halte eine Hand an mein Ohr. 

Er verdreht die Augen. 

"Ja, du hast Recht. Ich würde mich freuen, wenn du dich mal mit mir triffst, anstatt mit diesem Vollidioten wieder auf irgendeine beschissene Party zu gehen" 

"Fragst du mich gerade nach einem Date?", lächle ich. 

"Scheint so...", murmelt er, unfähig mich anzusehen. 

"Okay"

"Okay?" 

"Ja. Ich möchte mich gerne mit dir treffen." Ein leichtes Schmunzeln huscht über seine Lippen. 

Die Stunden nach der Mittagspause vergehen wie im Flug. Wir albern rum, reden ganz normal miteinander und beenden unser Projekt in den letzten zehn Minuten.

Ich hätte niemals gedacht, dass dieser Tag so schön wird. Als ich zu Hause ankomme, vibriert mein Handy wieder. Ich habe eine Freundschaftsanfrage - von Ben.

Trust me, I am a Bad Boy. / AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt