5 - Zum Glück zu spät

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Als mein Wecker übertrieben laut klingelt und ich schon viel zu oft auf die Schlummertaste eingeschlagen habe, stehe ich schnell auf. Langsam aber sicher schlurfe ich ins Badezimmer und mache mich fertig. Heute habe ich mal wieder Lust auf eine aufwändigere Frisur, weshalb ich mir einen französischen Zopf flechte. Als ich mich im Bad komplett fertiggemacht habe, sprinte ich zu meinem Kleiderschrank denn mir ist mittlerweile aufgefallen, dass ich viel zu spät dran bin. Ich konnte die ganze Nacht mal wieder kaum schlafen weil ich dauernd von ihr geträumt habe. Das geht jetzt schon seit zwei Wochen so und ich weiß nicht, wie lange ich diesen enormen Schlafentzug noch aushalte. Selbst meine Augenringe sind so tief, dass ich sie kaum noch verdecken kann. Mein Make-up rettet mir in diesem Fall das Leben. Frau Schneider behandelt mich seit der ersten Unterrichtsstunde wie jeden anderen Schüler auch aber hin und wieder fällt mir auf, dass sie mich beobachtet wenn wir in Gruppen oder alleine arbeiten. Sie hat dann so einen speziellen Gesichtsausdruck, den ich zuvor noch nie bei jemandem gesehen habe. Ich liebe diesen Gesichtsausdruck an ihr. Auch, wenn ich ihn nicht einordnen kann. Wenn sie bemerkt, dass ich sie beim beobachten erwische, sieht sie jedoch sofort weg und tut so, als wäre nichts gewesen. In letzter Zeit häufen sich diese Situationen jedoch. Was ich auch seltsam finde ist, dass Frau Kramer mich irgendwie anders behandelt als die anderen Schüler. Zumindest habe ich den Eindruck denn sie fragt öfter, wie es mir geht, ist immer überfreundlich zu mir und als ich letztens meine Hausaufgaben vergessen hatte, war sie nicht einmal genervt, wie sie es sonst immer bei allen ist. Mich stört es irgendwie weil ich keine Sonderbehandlungen mag. Vielleicht spreche ich sie mal darauf an aber wenn ich mich irre, wäre das superpeinlich.

Heute ist einer der ersten Herbsttage, denn es ist kalt und der Himmel ist mit Wolken bedeckt. Nichtmal ein einziger Sonnenstrahl schafft es durch die dicke Wolkendecke hindurch. Eilig renne ich so schnell ich kann in Richtung Bushaltestelle mit meinem grauen Rucksack am Rücken. Meine rosafarbenen Sneaker gleiten förmlich über den rissigen Asphalt und ich komme keuchend zum Stehen, als ich aus der Ferne den Bus an der Haltestelle losfahren sehe. Na toll. Warum muss der blöde Busfahrer auch immer zu früh losfahren? Das kostet mich jeden Tag kostbare Minuten Schlaf, die ich wegen ihm früher aufstehen muss. Fürs zurücklaufen, um mein Fahrrad zu holen ist es auch schon zu spät, weshalb ich meinen Weg direkt zur Schule nun in schnellen Schritten fortsetze. Als ich noch nichtmal auf halber Strecke bin, fängt es an zu Regnen. Zuerst ganz leicht aber innerhalb von Sekunden wird er immer stärker. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis mein olivgrüner Kapuzenpulli unter meiner Jacke nass wird weil ich auch keinen Regenschirm dabei habe.

Genervt laufe ich etwas schneller, bleibe jedoch stehen, als ein Auto neben mir hält. Ich beachte es nicht weiter. Bis eine sanfte, warme Stimme an mein Ohr dringt: „Hey Maja! Soll ich dich mitnehmen? Du bist ja schon völlig durchnässt." Ich werfe einen Blick nach rechts und sehe die wunderschöne Frau mit roter Jacke in ihrem schwarzen Auto sitzen, durch dessen heruntergekurbeltes Fenster sie mich freundlich anlächelt und mich abwartend ansieht. Mein Verstand, der mir befiehlt, nicht in dieses Auto zu steigen, da sich sonst meine mühevoll erarbeitete Distanz höchstwahrscheinlich in Luft auflöst hält mich jedoch ab und ich versuche, einen guten Grund zu finden, um zu Fuß zu laufen. „Äh... ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist...", beginne ich aber als sie eine ihrer Augenbrauen hochzieht, erwidert sie mit belustigtem und trotzdem ernsten Unterton: „Warum sollte das keine Gute Idee sein? Ich werde dich schon nicht entführen und so kommst du wenigstens noch pünktlich und einigermaßen trocken in der Schule an." Nun sehe ich ein, dass es keine gute Ausrede gibt, nicht mit meiner Lehrerin zu fahren. Ich bin mit einem Mal wieder so nervös, dass ich mit zitternden Händen die Autotüre öffne und mich mit rasendem Herzen auf den Beifahrersitz setze. Sie sieht mich mit einem zufriedenen Lächeln an, welches mich mal wieder umhaut und konzentriert sich dann auf die Straße.

Es ist so schön, sie auch einmal aus nächster Nähe in Ruhe betrachten zu können. Ihre dunkelbraunen Augen, in denen man kleine, hellbraune Sprenkel erkennen kann, ihre glänzenden, dunkelbraunen Haare, die sie, wie so oft zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden hat, ihre zartrosafarbenen Lippen, die sich jetzt in ein verschwörerisches Grinsen verwandeln... „Hab ich was im Gesicht, oder warum starrst du mich die ganze Zeit so an?" Peinlich berührt blicke ich aus dem Fenster und spüre, wie sich mein Gesicht rot färbt. Draußen ertrinkt die Welt und geht unter und hier im Auto ist der Himmel auf Erden. „Äh nein, tut- tut mir leid... Ich war nur in Gedanken." Dass ich in ihrer Gegenwart einfach keinen normalen Satz zusammenbekomme, stört mich tierisch. Sie muss auch denken, dass ich total bescheuert bin. „Aha", äußert diese bezaubernde Frau nur und ich bilde mir ein, dass ihr Grinsen soeben noch ein kleines Stück größer geworden ist.

Viel zu früh bleibt sie mit dem Auto stehen aber da das nicht der Parkplatz der Schule ist, sehe ich sie nur verwirrt an. „Es wäre seltsam, wenn Schüler oder Lehrer dich aus meinem Auto steigen sehen. Du solltest das letzte Stück laufen. Ist ja nur um die Ecke." Ich kann immernoch keinen klaren Gedanken fassen, denn ihr komplettes Erscheinungsbild bringt mich total durcheinander. Mein Herz schlägt noch mehr als vorhin, sodass ich befürchte, meine Lehrerin könnte es hören und meine Hände zittern immer mehr. „Hey, ist alles in Ordnung bei dir Maja?" Sie legt ihre Hand auf meine. „Oh mein Gott du zitterst ja und deine Hand ist ganz kalt. Soll ich dich lieber wieder nach Hause bringen? Nicht, dass du krank wirst." Ich bin komplett überfordert mit der jetzigen Situation und der plötzlichen Nähe. An der Stelle, an der ihre Hand meine berührt, brennt meine Haut und elektrisiert von dort aus meinen gesamten Körper. Ihr Blick wirkt sorgenvoll. In diesem komplett gefangen, antworte ich mit krächzender Stimme: „D- Danke Frau Schneider aber äh mir geht es gut." Sie scheint mir nicht ganz zu glauben aber meint nur: „Wenn du dich dazu bereit fühlst, in den Unterricht zu gehen, dann ist das natürlich in Ordnung aber ich möchte, dass du wenigstens warm angezogen bist, damit du dich nicht erkältest." Ich, die ihren Blick auf ihre Hand fixiert, welche meine nach wie vor umschließt, verstehe nicht ganz, was sie meint. Wie soll ich warm angezogen sein, wenn meine Jacke völlig durchnässt ist? Sie bemerkt meinen Blick und zieht ihre Hand schnell zurück. Mit einem Mal wird meine wieder so kalt wie vorhin und wirkt jetzt unangenehm leer. Ich versuche, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen und hebe nun auch endlich wieder meinen Blick um überrascht festzustellen, dass sich ihre Wangen leicht rosa gefärbt haben und sie schüchtern zur Seite sieht, was diese perfekte Frau nur noch perfekter wirken lässt. Wobei ich nicht wusste, dass das noch möglich ist. Sie nimmt jetzt ihren weißen, flauschigen Wollschal ab, zögert für den Bruchteil einer Sekunde und wickelt ihn mir langsam und vorsichtig um den Hals als würde sie befürchten, ich könne zerbrechen. Die Frau mit den schokobraunen Augen sieht intensiv in meine. Wie hypnotisiert halte ich ihrem Blick stand. Nun beginne ich, zu verstehen, was sie meinte. „Ähm ja... nimm bitte den Schal. Er sieht vielleicht nicht so aus aber er hält unglaublich warm... Außerdem steht er dir." Mit einem leichten Glanz in ihren Augen zwinkert sie mir zu, wird danach verlegen und bricht den Blickkontakt ab. Ich nicke leicht verträumt und mit hochrotem Kopf, als ich die Autotüre öffne. Gerade, als ich aussteigen will, drehe ich mich erneut zu ihr, sehe ihr intensiv in die Augen und sage: „Vielen Dank fürs Fahren und natürlich auch für den Schal. Selbstverständlich bekommen Sie den wieder." Sie fixiert meinen Blick und nickt nur leicht geistesabwesend. Als sie sich wieder fängt, lächelt sie mich mit ihren immernoch rosa gefärbten Wangen an und ich schließe die Autotüre.

In schnellem Schritt bewege ich mich um die Ecke und komme eine Minute darauf pünktlich in der Schule an. Ich bin sehr verwirrt über sie, ihr Verhalten mir gegenüber, mich selbst und meine Gefühle, die alle stärker zu sein scheinen, als gedacht. Ein riesiger Sturm aus Gedanken, Fragezeichen und Gefühlen wütet in mir. Fast, wie am ersten Schultag. Nur viel stärker. Während ich versuche, diesen Sturm zumindest für den Moment zu beruhigen und mich auf den Weg zur Mathestunde mache, vernebelt der Duft des Schals meine Sinne, der angenehm nach seiner Besitzerin riecht. Ein unbeschreiblich schöner Geruch aus einer Mischung von Zimt und Sonnenuntergang. In meinem Kopf hat sich das Bild unserer umschlossenen Hände eingebrannt, welches mich augenblicklich überglücklich macht. Als ich den Matheraum betrete, bin ich plötzlich unfassbar froh, den Bus verpasst zu haben und bin dem Busfahrer heute ausnahmsweise sehr dankbar, zu früh losgefahren zu sein...

✔️Eine ganz besondere Liebe Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt