Kapitel 1

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Es war ein ganz normaler Sonntag. Ein ganz normaler Dienst. Ich würde mit zwei weiteren ehrenamtlichen Helfern in der Commerzbank Arena in Frankfurt einen Block betreuen. Wir bekamen kein Geld für unsere Arbeit. Ein kleiner positiver Vermerk in unseren Lebensläufen, der darauf hinwies, dass wir uns ehrenamtlich beim Roten Kreuz betätigten, das war alles. Wir machten diese Dienst bei Fußballspielen oder Konzerten auch nicht des Geldes wegen. Wir hatten Spaß an der Arbeit. Die Arbeit mit Menschen. Und das man dabei noch ein Spiel vom 40 Block, dem sogenannten "Ultra-Block" bestaunen konnte, war für uns nur ein Pluspunkt.

Unser Ortsverein besetzte den 40. Block schon seit Jahren. Wir waren unglaublich stolz darauf. Nicht nur weil wir uns selbst als einen wirklich gut ausgebildeten OV präsentieren konnten, sondern auch weil es für uns Helfer eine fantastische Übung war dort zu sein. Es klingt fürchterlich es so zu beschreiben. Als würden wir uns freuen, wenn sich Menschen weh tun. Ich für meinen Teil kann dazu sagen, dass ich mich nie darüber freue, wenn ich "Arbeit" habe. Keiner tut das wirklich. Es sind diese kleine Adrenalinschübe, die in uns frei gesetzt werden. Man weiß nie, was als nächstes passiert, wer als nächstes zu uns kommt oder zu wem wir gerufen werden. Jede Situation ist neu und jedes einzelne Mal handeln wir anders.

Ich tue es für die Menschen. Ja, das klingt kitschig. Aber wer kennt diesen Moment nicht, in dem man mit einer kleinen Geste gezeigt bekommt, dass es gut war, dass man da war. Es kann ein zunicken sein, ein unbedeutender Händedruck oder das Lächeln eines Kindes. Für diese kleinen Momente tue ich es.

Und deswegen stand ich auch heute wieder in dem kalten, windigen Betongang zwischen Bock 40 A und D. Hinter mir die Herrentoilette, die zum Gras verteilen genutzt wurde, aus der auch ab und zu mal Damen mit verwuschelten Haaren heraustraten. Ich mochte Fußball nicht einmal. Aber ich fand das Publikum faszinierend. Die Männer die sich bei einem Tor in die Arme fielen, obwohl sie sich nicht einmal kannten, die Menschen die gemeinsam in Hassgesänge gegen die gegnerische Mannschaft ausbrachen. Jedes Mal überkam mich eine Gänsehaut, wenn das gesamte Publikum im Stadion aufstand und "Im Herzen von Europa" zusammen sang. Ich kannte viele Gesichter mittlerweile. Und die Fans kannten mich. Ich war eine bekannte Konstante im Block geworden. Ein kurzes Zustimmendes Zunicken einiger Fans, die sich schon einmal von mir hatten behandeln lassen.

Diese Fans waren etwas besonderes. Ich hatte nie Menschen erlebt, die härter im Nehmen waren. Stühle gegen die Stirn bekommen und wollten nur ein Pflaster, damit sie das Spiel weiter sehen konnten. Gebrochene Mittelhandknochen durch Schlägereien und verlangten nur nach einem Kühlpack.

Und trotz der allgemeinen Aggressivität, die wie bei jedem anderen Spiel von anderen Vereinen mit in der Luft schwebte, hatte ich mich noch niemals unsicher oder sogar bedroht gefühlt.

Gerne konnten wir Helfer, uns als stille Beobachter sehen. Wir sahen nicht, wenn neben uns die Drogen verkauft wurden, rochen den Geruch der Joints nicht, urteilten nicht über aufgeschürften Hände, von Prügeleien, die wir versorgten, hörten nicht, wenn von einer Schlägerei mit den "Bullen" die Rede war.

Auch an diesem Sonntag war das nichts anderes. Obwohl das Spiel gegen Schalke, als ein "Risikospiel" für uns deklariert war, machte ich mir keine Gedanken. Warum auch. Es war noch nie etwas passiert. Natürlich hatte es Schlägereien gegeben, aber das war nichts neues. Das hätte ich auch auf jedem Straßenfest oder jeder Kerb, wenn ich dort einen Dienst machen würde. Die Mischung aus Alkohol, Drogen und angestauter Wut vertrug sich nie.

Mit einer kurzen Begrüßung wurden wir von den Securityfrauen und -männern aufgeklärt über die momentane Lage. Anscheinend hatte es in den sozialen Netzwerken schon Anfeindungen gegeben, wodurch die Stimmung bei den Fans schon recht aggressiv war. Aber das hatten wir auch schon von unserem Einsatzleiter gehört, bevor wir von der Wache eins auf unsere Position gelaufen waren.

Das Securitypersonal war mir suspekt. Ich hatte mich schon nach meinem ersten Dienst in der Comba gefragte, welche Qualifikationen diese Menschen vorzuweisen hatten. Ich weiß, man sollte ein Buch nicht nach seinem Aussehen beurteilen, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass eine zierliche, 1,50m große Frau, gegen auch nur einen Ultrafan etwas bewirken konnte. Sich irgendwie durchsetzten könnte. Erst zwei, drei Jahre nach meinem ersten Dienst wurde mir erklärt, dass das einzige Einstellungskriterium war, dass man schwarze Kleidung und schwarze Schuhe besaß. Da wurde mir dann klar, das der Name "Securitypersonal" wirklich fehl am Platz war. Im Endeffekt wurden sie auch mehr als Ordner eingesetzt. 

Nicht durchsetzungsfähige Ordner.

Wir konnten beobachtete, wie die Ordner durch die Massen von Menschen gar nicht mitbekamen, dass manche Fans zu viert oder fünft den Block betraten, einer wieder nach draußen lief und mit drei oder vier anderen wieder reinkam. Jeder Fan wollte einmal im 40. Block feiern, aber mit der begrenzten Anzahl von Plätzen, war das kaum möglich. Also kamen andere Tricks zum Vorschein. Dadurch war jedes einzelne Spiel der Block komplett überlaufen und wir hatten Schwierigkeiten rein oder raus zu kommen, wenn sich jemand unten verletzt hatte.

Neben unserem San-Rucksack, abgekürzt für Sanitätsdienst-Rucksack, stand der AED, der automatisierte externe Defibrilator. Ich hatte ihn noch nie benutzen müssen und hoffte auch, dass es niemals dazu kommen würde. Darüber hing ein Plakat. Vor jedem Spiel verteilten die Fans diese Plakate. Es waren die "Regeln". Darin war festgehalten, dass das Handy weggesteckt bleiben sollte, man seine Fahnen benutzen sollte und in Sozialen Medien nicht über Ereignisse in der Westkurve geredet werden durfte. Außerdem sollte jeder mitsingen und die Mannschaft als 12. Mann unterstützen.

Grinsend beobachtete ich, wie immer mehr Menschen den Block betraten. Alle waren aufgeregt und bereit sich die Seele aus dem Leib zu brüllen, für ihre Mannschaft. Die Anspannung und Nervosität hing wie dicke Nebenschwaden in der Luft. Alle wollten dieses Spiel gewinnen, aber gegen Schalke zu gewinnen würde nicht einfach werden. Und ein Verlust könnte verheerende Folgen für den Tabellenplatz haben.

Mein Wissen über Fußball hatte ich mir bei den Diensten in der Comba angeeignet. Und auch die Lieder konnte ich mittlerweile mitsingen, trotzdem verstand ich die Faszination für Fußball immer noch nicht.

Der Anschlag *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt