Kapitel 15

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"Dafür muss sich niemand bedanken", flüsterte ich. Kopfschüttelnd sah ich auf meine gefalteten Hände, die auf meinen regungslosen Beinen lagen.

"Uns war schon klar, dass dieser Bullshit von wegen euer Job und dafür ist das Rote Kreuz ja da und sowas kommt. Dass niemand sich bedanken braucht. Und doch, das müssen wir und wir als UF97 machen das nur zu gerne im Namen aller Überlebenden. Auch im Namen aller Angehörigen der Verstorbenen. Ihr habt alles getan, um zu helfen. Dafür sind wir euch unglaublich dankbar", sprach Holger. Seine tiefe, ernste Stimme ließ mich erschaudern. Jetzt verstand ich auch, warum im Stadion immer alle einen Bogen um ihn machten und ihm aus dem Weg gingen, wenn er vorbei lief. Ich war mir fast zu 100% sicher, dass er das Sagen bei den Ultras hatte.

"Eigentlich wollten wir euch alle einladen. Das Stadion wird gerade wieder aufgebaut und das erste Spiel der Eintracht soll auch gleichzeitig eine Gedenkveranstaltung sein. Wir hätten dich gerne dort", sagte Sibille liebevoll. Erschrocken sah ich sie an.

"Nein!", stieß ich atemlos aus. Hektisch schüttelte ich den Kopf. Mit zitternden Händen manövrierte ich mich vorbei an den Männern zur Tür, um sie zu öffnen. "Ich bin euch allen sehr dankbar, dass ihr hier wart, aber ich werde das Waldstadion nie wieder betreten. Es war nur freundlich gemeint, aber das kann ich nicht." Schwer atmend sah ich die vier Ultras in ihren schwarzen Klamotten an. Alle Farbe hatte mein Gesicht verlassen, als ich zittrig weitersprach, "Bitte, geht jetzt. Ich wünsche euch noch einen schönen Tag."

"Aber Emilia-", setzte Sibille an etwas zu sagen, aber ich ließ sie nicht aussprechen.

"Raus hier", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Und bitte fragt mich so etwas nicht noch einmal", fügte ich etwas sanfter hinzu.

Ohne noch Einspruch zu erheben, verließen wirklich alle vier mein Zimmer. Ich hoffte nur, dass meine Mutter bald hier sein würde. Ich konnte nicht noch mehr Menschen hier haben, die versuchen wollten mich an diesen Ort zurück zu bringen. Mein Therapeut hatte gemeint, dass ich eigentlich dort hin sollte. Ich sollte mich selbst mit dem Ort konfrontieren und meine Angst davor verlieren, aber ich konnte und irgendwie wollte ich mich auch nicht dazu überwinden.

Schwer atmend, als wäre ich gerade einen Marathon gerannt, rollte ich mich zurück an den kleinen Tisch. Der Innenhof war jetzt ganz leer und verlassen. Nach kurzer Zeit kamen Sibille, Holger und Detlef heraus. Während das Ehepaar sich Zigaretten anzündeten lief Detlef wild gestikulierend auf und ab. Ich wusste nicht, was er sagte, aber er regte sich über irgendetwas oder irgendjemanden fürchterlich auf.

"Er ist wütend über den Anschlag. Darüber das jetzt Rot Kreuz Helfer, wie du, die jahrelang beständige Gesichter in der Westkurve waren, jetzt Angst haben und nicht mal mehr das Stadionsgelände betreten wollen", erklärte plötzlich eine männliche Stimme hinter mir, was ich gerade dort unten beobachtete. Erschrocken drehte ich mich zu Adrian um.

Der junge Mann hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit seinem aufgebrachten Vater. Dunkel braune Locken hatte er zu einem Dutt zusammengebunden, wenn er ihn lösen würde, würden seine Haare wahrscheinlich kurz oberhalb der Schultern enden. Warme braune Augen beobachten jede meiner Bewegungen.

"Adrian", stieß ich erschrocken aus, "Was machst du hier?"

Einige Sekunden blieb er komplett still. Gerade wollte ich schon ein zweites Mal fragen, aber da sagte er schon schnell, "Ich erinnere mich an dich."

Verwirrt sah ich ihn an.

"Okaaay, das ist klar. Du hast es selbst gesagt, ich stand jahrelang im vierziger Block. Da ist es kein Wunder, dass du dich an mich erinnerst", antwortete ich verwundert.

"Nein, das meine ich nicht", lächelnd schaute Adrian auf seine Schuhe, "Ich erinnerte mich an dich vom Anschlag."

Erstaunt sah ich ihn an. Adrian sah wieder nach oben und kratzte sich unschlüssig am Hinterkopf.

"Die Druckwelle hat mich nach hinten gegen die Wand geschleudert. Ich war bewusstlos. Du warst bei mir. Ich kann mich nicht ganz daran erinnern was du gemacht hast. Aber ich weiß noch, du hast die gesamte Zeit mit mir geredet und hast mich in eine Decke gepackt. Aber was ich noch ganz genau weiß, ist was du mir zugeflüstert hast, bevor du zum nächsten Verletzten gegangen bist. Du hast gesagt 'Es tut mir leid, aber ich verspreche dir, alles wird wieder gut'. Deine Stimme hat mich bis ich im Krankenhaus war verfolgt. Mir Hoffnung gegeben. Dafür wollte ich mich bedanken", erklärte Adrian gefasst.

Lächelnd sah ich ihn an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also sagte ich einfach nichts. Sein Vater lief immer noch auf und ab, aber jetzt war es Holger, der am Reden war. Immer wieder nickten Sibille und Detlef zustimmend.

"Wieso willst du nicht kommen? Der Aufbau wird doch eh erst in etwa einem Monat oder sogar mehr fertig sein", fragte Adrian nach. Er hatte sich neben mich gesetzt.

"Weißt du warum ich mit dir und mit jeder anderen Verletzten Person geredet habe, als wäre sie bei Bewusstsein?", stellte ich eine Gegenfrage. Nur aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Adrian den Kopf schüttelte. "Ich habe mich selbst versucht zu beruhigen. Ich habe jedem das selbe gesagt, wie dir, dass ich versprechen würde, dass alles wieder gut wird. Eigentlich wollte ich mir selbst damit einreden, dass alles wieder gut wird. Aber es wird nichts mehr gut. Die meisten der Menschen, denen ich das gesagt habe, sind gestorben", erklärte ich ernst.

"Und genau deswegen kann ich das Stadion nicht betreten und werde auch nicht zur Gedenkveranstaltung kommen", sprach ich weiter und sah dabei zu Adrian rüber.

"Denkst du nicht, dass es für viele Menschen vielleicht sehr tröstlich war. Vielleicht war das, das letzte, was sie gehört haben. Es hat ihnen vielleicht, genau wie mir, die Angst genommen und Hoffnung gegeben", widersprach Adrian mir freundlich, "Überleg es dir doch noch einmal. Hier ist meine Nummer falls du doch kommen willst oder wenn du einfach nur reden willst." Zaghaft lächelnd schrieb er seine Nummer auf ein altes Kaugummipapier, dass er aus seiner Jackentasche gefischt hatte.

"Ich geh mal die alten Leute da unten wieder etwas beruhigen", versuchte Adrian die Stimmung noch zu lockern, bevor er mein Zimmer endgültig verließ. Ein kleines Schmunzeln umspielte meine Lippen, als ich von der verschlossenen Tür auf das Kaugummipapier in meiner Hand herunter sah.

Der Anschlag *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt