Kapitel 10

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"So Mila, das ist Frieda", meinte Robin, als er einen Tag später mein Zimmer betrat. Hinter ihm eine junge Frau ungefähr in meinem Alter. Sie saß im Rollstuhl und lächelte mir freundlich zu.

"Was soll das werden? Hast du jetzt eine Freundin geholt, um mir zu zeigen, wie toll doch das Leben im Rollstuhl ist?!", fragte ich sarkastisch nach.

"Nein, eigentlich ist sie deine Physiotherapeutin. Sie bringt dir bei, wie du dich ab sofort bewegen kannst", sagte Robin genervt.

"Ich habe meinen Physiotherapeuten schon kennengelernt. Er war männlich, an die vierzig und unfreundlich."

"Eigentlich ist Stefan sehr freundlich, aber du hast ihn mit einem Buch abgeworfen und gesagt, er solle sich einen richtigen Job suchen", brummte Robin, "Deswegen ist Frieda hier. Sie ist keine Therapeutin, in deinem Alter und sitzt im Rollstuhl weil sie einen Autounfall hatte. Mach mit. Ansonsten komme ich wieder und glaub mir, meine Therapiesitzung wird grober als ihre."

Damit ließ er mich mit Frieda alleine.

"Ich bin seine Cousine und er meint es nicht so. Es zeigt, dass er dich sehr schätzt, wenn es sich so dafür einsetzt, dass ich hier her kommen darf, um dir zu helfen", begann Frieda freundlich.

"Wann war dein Unfall?", fragte ich nach.

"Ich war gerade siebzehn und nur die Beifahrerin. Ich hatte Glück im Unglück", gab sie preis.

"Das behaupten die Ärzte bei mir auch", flüsterte ich.

"Und stimmt das etwa nicht? Würdest du lieber im Keller in einem Leichensack liegen? Eine weitere Tote, zwischen all den anderen, die es schon bei dieser fürchterlichen Explosion gab?"

Seufzend schüttelte ich den Kopf.

"Na dann, steh auf. Setz dich in den Rollstuhl und komm mit."

Kurz lag ich weiter in meinem Bett ohne etwas zu tun. Aber dann setzte ich mich doch auf, fuhr das Bett so weit es ging nach unten und hob meine Beine über die Bettkante. Frieda schob den Rollstuhl in meine Griffweite und sah mir dann einfach zu. Stefan hatte versucht mich aus dem Bett zu heben und mir zu helfen, aber dabei fühlte ich mich wie ein Kleinkind, dass nichts alleine schaffen konnte. Das hatte meine Wut auf ihn nur noch gesteigert. Frieda gab mir die Zeit, die ich brauchte. Sie sagte auch nichts, sondern wartete geduldig ab, bis ich mich in den Stuhl gehievt hatte und meine Beine und Füße sortiert hatte.

"Wir werden an deiner Armmuskulatur arbeiten. Du wirst sie jetzt so häufig benutzen, da bleibt dir gar keine andere Wahl, als stärker zu werden", sagte Frieda, während sie von mir her fuhr, in Richtung der Aufzüge, "Ich habe mir von Stefan deinen Trainingsplan geben lassen. Wir werden den durchziehen, aber gemeinsam. Ein bisschen Übung kann auch mir nicht schaden."

Weder Stefan noch Frieda wollten mir schaden. Sie wollten mir nur mit meiner momentanen Lage helfen. Mich stark machen, denn ich musste wohl oder übel ab sofort im Rollstuhl zurechtkommen.

*

"Du musst dich mehr anstrengen!", trieb Frieda mich an, während mir der Schweiß über die Stirn lief. Die kleinen Perlen vermischten sich mit meinen salzigen Tränen. Jeder Muskel in meinem Körper sträubte sich gegen die schweren Armübungen. Sie waren nicht gewohnt so hart arbeiten zu müssen und mein gesamtes Gewicht tragen zu müssen.

"Ich kann das nicht", gab ich physisch und psychisch am Ende von mir.

"Glaub mir, ich weiß wie hart das alles für dich ist, aber nur noch ein bisschen. Du schaffst das!", versuchte Frieda mich weiter zu motivieren.

"Nein, du verstehst mich nicht. Ich kann das nicht. Ich kann das einfach nicht. Ich kann so nicht leben", brachte ich mit zitternder Stimme hervor. Jetzt waren die Tränen deutlich zu erkennen, die über meine Wangen strömten.

"Diese Entscheidung wurde dir schon abgenommen", hörte ich da plötzlich eine männliche Stimme hinter mir. Jan kam herein gelaufen. "Und deswegen musst du weiter machen."

"Das ist einfach für dich zu sagen. Du kannst ja auch noch laufen, hattest weder eine Hirnblutung, noch eine Schlaganfall", zischte ich ihm wütend zu.

"Ich weiß, dass du nur wütend bist, weil du nicht mehr laufen kannst, deswegen nehme ich das jetzt nicht persönlich. Denn ja ich kann noch laufen, aber ich war mit dir im Stadion. Wir haben das gemeinsam durchgestanden und gemeinsam überlebt. Und genau deswegen machen wir das hier jetzt auch gemeinsam", meinte Jan gelassen. Er schnappte sich einen Rollstuhl, setzte sich rein und rollte zu uns herüber. Ohne zu zögern machte er neben mir die selbe Armübung, bei der ich gerade aufgegeben hatte.

Verdutzt sah ich ihm einfach nur dabei zu. Bis er plötzlich aufhörte und mich auffordernd ansah.

"Glaub mir, alleine mache ich das hier nicht", schnaubte er.

Obwohl ich keine Kraft mehr hatte, kam ein Fünkchen meiner mentalen Stärke zurück. Also ging es weiter. Mein ganzer Körper schrie vor Schmerz. Na ja zumindest die obere Hälfte meines Körpers. Aber immerhin schrie nicht mehr nur mein Körper. Ich kam mir weniger alleine vor.

Nach etwa weiteren zehn Minuten entließ Frieda uns aus der Folter.

Im Gegensatz zu mir konnte Jan wieder aus dem Rollstuhl aufstehen, was mich nur wieder daran erinnerte, was ich verloren hatte. Aus Nettigkeit schob er mich wieder zum Aufzug und in mein Zimmer zurück. Aber für mein Gefühl verdeutlichte es nur noch mehr, wie man mich ab jetzt herumschieben und -schubsen konnte. Ich war hilflos ohne Hilfe und einfach nur aufgeschmissen. Wie sollte ich mich damit jemals abfinden können?!

"Wenn du mit deiner Reha fertig bist, werde ich aussehen wie Popeye", versuchte Jan zu scherzen. Ein kleiner Seufzer, der niemandem vorgaukeln konnte, dass ich das wirklich witzig gefunden hätte, entfloh meinen Lippen.

"Ich bin wirklich müde. Du solltest jetzt gehen", sagte ich deutlich, als wir in meinem Zimmer angekommen waren.

"Bist du sicher, dass ich dir nicht noch helfen soll. Ich könnte -", fing Jan an zu fragen.

"Nein!", entgegnete ich energisch. Mit zusammen gezogenen Augenbrauen musterte Jan mich, als wolle er abwägen, ob das auch nur im geringsten der Wahrheit entsprechen konnte. "Ich schaffe das alleine", fügte ich sanfter hinzu, um ihn zu besänftigen.

"Bist du dir sicher?", fragte er noch einmal.

Bekräftigend nickte ich. "Ja, klar", murmelte ich gespielt locker.

Es schien ihn zu überzeugen und er ließ mich wirklich nach einer kurzen Verabschiedung alleine.

Erschöpft atmete ich auf. Mit letzter Kraft schaffte ich es mich selbstständig umzuziehen, aber als ich versuchte mich wieder im mein Bett zu hieven, schaffte ich es einfach nicht. Ich fand die Fernbedienung nicht, um das Bett weiter runter zu fahren und es war einfach zu hoch für mich. Außerdem reichte meine Kraft einfach nicht mehr.

Da brach alles aus mir heraus. Weinend und schluchzend saß ich meinem zweirädrigen Gefährten und bekam mich nicht mehr ein.

Irgendwer betrat das Zimmer. Es war eine Krankenschwester, die mir nur helfen wollte, aber ich brüllte sie an, dass sie mich in Ruhe lassen sollte. Das tat sie auch.

Der Anschlag *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt