Kapitel 20

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"Ach Mäuschen, dafür haben sie doch mich. Die meisten von denen können nicht einmal links von rechts unterscheiden, geschweige denn, dass die jemals einen Faden in ein Nadelöhr bekommen!", lachte Sibille laut los.

"Ein paar der anderen sind wirklich begabt, aber vor allen Dingen Adrian und Chris sind so unbegabt, wie es nur geht. Die kümmern sich mehr um den effektiven Einsatz unserer Spenden, so dass kein Cent verloren geht", meinte Holger. Ohne ein weiteres Wort verließ er ebenfalls den Raum.

"Adrian, zeig Emilia doch den Hinterhof, der könnte ihr gefallen", sagte Sibille grinsend. Leicht stieß sie mit ihrer Schulter an seine und nickte dann zu mir.

Der junge Mann wurde rot wie eine Tomate, als er mir, mit einem Nicken zur Seite andeutete, ihm zu folgen. Ein schlauchähnlicher Flur, von dem mehrere Türen abgingen, führte geradewegs auf eine Tür mit Milchglasscheiben zu. Adrian riss die Tür auf. Sechs Stufen führten in einen kleinen Hinterhof. Zum Glück gab es dieses Mal ein Geländer, damit war es auch mir möglich mich die Treppe runter rollen zu lassen. Frieda hatte mir gezeigt, wie Treppen hoch und runter kommen konnte, ohne auf Hilfe angewiesen zu sein, aber ich schaffte es nur mit einem Geländer, um mich festzuhalten und hoch zu ziehen. Bei Frieda sah das ganze unglaublich einfach aus. Ich dagegen sah aus wie ein gestrandeter Wal, der mit letzter Kraft versuchte sich irgendwie wieder selbstständig ins Wasser zu bekommen.

Kritisch beobachtete Adrian jeden meiner Handgriffe. Sein ganzer Körper war angespannt und jeder Zeit bereit mich aufzufangen oder zu stützen bevor ich mit meinem Rolli die Treppe runter segeln würde.

Im Hof gab es einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Die Pflanzenkübel um uns herum waren leer und nur mit Erde gefüllt. In einigen steckten alte Zigarettenstummel und anderer Abfall. Ich wusste nicht genau, was mir hier gefallen sollte. Es sah fürchterlich aus. Unsicher sah ich mich um. Sichtlich unwohl faltete ich meine Hände auf meinen Schoß, um bloß nichts zu berühren.

"Sibille wollte bloß verhindern, dass Chris und ich uns noch einmal prügeln", erklärte Adrian die Lage.

"Ich dachte schon sie hätte eine interessante Ansicht, davon was mir gefallen könnte", lächelte ich gequält.

"Nein!", stieß der junge Mann lachend aus, "Wobei man sagen muss, dass es im Sommer hier hinten wirklich schön ist. Sibille und meine Mutter und noch ein paar andere machen das zu ihrem persönlichen Frühlingsprogramm hier alles mit Blumen wieder aufzuwerten. Allerdings hält das nie lange. Dafür wird hier hinten zu viel geraucht, von Männern die wenig Sinn für die Schönheit der Natur übrig haben."

"Die Schönheit der Natur", Stirn runzelnd sah ich Adrian an. Hatte er wirklich gerade über die "Schönheit der Natur" gesprochen? Dieser Mann hatte wirklich zu viel Facetten, die ich einfach nicht erwartet hatte.

Adrian setzte gerade an etwas zu sagen, da wurde die Hintertür aufgerissen. Ein breit grinsendes Mädchen stand dort zusammen mit Chris.

"Adrian, Baby!", rief sie freudig. In Windeseile hatte sie ihn in eine feste Umarmung geschlossen. Sie hatte blonde lange Haare, die sie in einem hohen Pferdeschwanz trug. Ihre braunen Augen beobachteten mich voller Wärme. So wie sie zu Adrian war, musste sie entweder eine sehr enge Freundin oder sogar seine feste Freundin sein. Wundern würde es mich nicht. Adrian war so ein netter und bisher wirklich herzensguter Typ. Es hätte mich mehr gewundert, wenn er noch Single wäre.

"Mila, dass ist meine kleine Schwester Kira", stellte Chris uns aneinander vor, "Kira, dass ist Emilia."

"Du meinst die Emilia?!", fragte seine Schwester aufgeregt nach.

Nach der Bestätigung durch Adrian fiel sie auch mir stürmisch um den Hals. 

"OH! Ich freu mich so, dass ich dich endlich kennenlernen kann. Ich bin dir so unfassbar dankbar. Was du da für unsere Freunde und für uns getan hast, das war unglaublich stark von dir. Ich kann dir gar nicht genug danken!", erklärte sie liebevoll, "Adrian hat mir schon so viel erzählt, aber jetzt Mal im Ernst bereust du es nicht?"

Verwirrt sah ich Kira an. "Was genau meinst du?", wollte ich wissen. 

Sie nickte meinem Rollstuhl zu. Jetzt verstand ich, was sie meinte. Ob ich es bereute meine Fähigkeit zu Laufen geopfert zu haben.

"Manchmal", antwortete ich leise, mit einem gezwungenen Lächeln auf meinen Lippen. Schnell blinzelte ich die Tränen in meinen Augenwinkeln weg.

"Ich verstehe dich. Nicht mehr Laufen zu können, nachdem man es so lange konnte, muss fürchterlich sein", meinte Kira mitleidig.

"Nein, das ist nicht mein Problem. Aber ich habe an dem Tag nicht nur meine Fähigkeit zu laufen verloren, sondern auch einen Freund. Wenn ich meinen Kollegen gesagt hätte, das es mir nicht gut geht und dass ich Symptome eines Schädel-Hirn-Traumas oder einer Hirnblutung aufweise, dann hätten sie mich rausgeschafft. Wir hätten niemandem im Block geholfen, aber mein Freund würde noch leben. Aber jedes Mal wenn ich darüber nachdenke, dann bereue ich nicht, dass ich nicht mehr Laufen kann, denn dafür haben so viele andere überlebt. Ich bereue nur, dass ich nicht dafür gesorgt habe, dass Simon das alles nicht sehen muss. Wäre Simon nicht, gäbe es nicht, was ich an diesem Tag bereuen müsste."

Erschrocken sahen die drei jungen Leute mich an.

"Du weißt aber, dass du dir das nicht vorwerfen kannst oder?", meinte Adrian behutsam, "Simon hat sich umgebracht, das war seine eigene Entscheidung."

"Und es war die Entscheidung von Jan und mir ihn bei uns zu behalten. Ihn dazu zu bringen uns zu helfen. Es wäre unsere Aufgabe gewesen ihn zu beschützen. Simon hat es uns noch gesagt. Die Grundregel für jeden Dienst! Eigenschutz geht vor. Und wir haben den Eigenschutz mit Füßen getreten", antwortete ich wütend, "Und das wir diese Entscheidung für uns getroffen haben, ist ja noch in Ordnung. Aber wir haben diese Entscheidung auch Simon aufgezwungen. Also doch, ich kann mir seinen Tod vorwerfen."

Keiner wusste mehr, was er sagen sollte. Ich war selbst etwas überfordert mit meinem Ausbruch. So offen hatte ich bisher nur mit Jan und unserem Therapeuten geredet. Ich wusste, dass alle mir sagen würden, dass es nicht meine Schuld war. Aber ich hörte immer noch Simon, der uns sagte, wir sollten verschwinden und das der Eigenschutz vorginge. Er wollte gehen. Und hätten wir das getan, wären wir gegangen. Alles hätte einen anderen Weg genommen.



Der Anschlag *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt