Am nächsten Morgen war Jan wieder aufgetaucht. Ich konnte ihm ansehen, dass er genauso wenig, wie ich auch nur ein Auge in der Nacht zugetan hatte.
"Ich bin kein Nazi", waren seine ersten Worte, als er sich mir gegenüber an den Tisch setzte.
"Ich weiß, aber du hörst dich momentan stark danach an", antwortete ich. Ein schmallippiges Lächeln, das meine Augen nicht erreichte, spannte sich über mein Gesicht.
"Wir haben nie darüber geredet. Darüber ob die Strafe gerechtfertigt ist, ob es überhaupt irgendetwas gibt, dass das ganze rechtfertigen würde", murmelte Jan Kopf schüttelnd.
"Nichts was ein Gericht verhängen könnte, würde jemals dieses ganze Leid und Elend verteidigen oder rechtfertigen", flüsterte ich zurück, "Wie sollte es auch. Nicht einmal mit einer Todesstrafe, wie in Amerika würde das irgendetwas wieder gut machen."
Ich konnte Jan nicht in die Augen sehen, während ich sprach. Abwesend wanderte mein Blick aus dem Fenster. Im kleinen Innenhof des Krankenhauses saßen zwei Krankenschwestern. Sie waren am Rauchen und unterhielten sich dabei fröhlich.
"Ich weiß nicht, was der richtige Weg wäre. In den Nachrichten haben sie gesagt, dass es Deutsche waren. Das heißt die AfD kann es nicht auf "bösen" Flüchtlinge schieben, aber auch das man sie nicht ausweisen kann. Das wäre doch der einfachste Weg. In einem fürchterlichen Gefängnis irgendwo im Ausland festsitzen. Aber denk doch mal drüber nach. Würde das irgendwas verändern? Würde das die Toten zurück bringen? Oder dafür sorgen, dass wir besser mit dem gesehenen und erlebten umgehen können? Nein, ganz bestimmt nicht. Nichts, rein gar nichts kann das erklären oder wieder gut machen!"
Niedergeschlagen sah ich wieder zu Jan, der mich ausdruckslos aussah.
"Wie kannst du damit leben?", fragte er plötzlich hart, "Wie kannst du damit leben so etwas zu denken und zu fühlen, wenn du fast gestorben wärst, wenn du im Rollstuhl sitzt und wenn du nachts nicht einmal mehr schlafen kannst durch all das?"
"Was haben wir denn für eine Wahl? Soll ich jetzt wütend sein auf eine Religion. Der Islam kann nichts dafür was mir passiert ist. Oder soll ich den selben Ausweg wie Simon wählen?", fragte ich herausfordernd.
"Natürlich nicht", meinte der junge Mann mir gegenüber entschuldigend.
"Ja also! Ich kann nicht für immer wütend sein. Das zerstört mir mein Leben nur noch mehr. Also müssen wir stark sein und verstehen, dass es nichts ändert. Egal was wir machen oder sagen. Das einzige, was wir ändern können ist die Sicht von anderen Menschen, in dem wir darüber sprechen. Erklären, was passiert ist."
"Ich dachte, du willst nicht in die Nachrichten?", fragte Jan verwirrt.
"Niemand hat etwas von den Nachrichten gesagt. Ich werde keine Interviews geben. In einer Woche oder einem Monat haben die schon wieder eine neue Sensationsgeschichte gefunden, die unsere ablöst. Die einzigen die damit sich immer weiter beschäftigen werden, sind wir. Wir alle, die davon betroffen sind. Die dabei waren. Die wir das gemeinsam überlebt haben. Und genau deswegen müssen wir lernen mit unserem Schmerz und unserer Wut besser umzugehen, als sie gegen andere zu richten", versuchte ich meine Einstellung verständlich zu machen.
"Du wolltest noch vor einer Woche nur im Bett liegen, weil du dachtest, an einen Rollstuhl gekettet zu sein würde dein Leben beenden", schnaubte Jan abfällig über meinen Sinneswandel, "Ein paar Sitzungen bei einem Therapeuten machen dich noch lange nicht selbst zu einem. Tu also nicht so, als wärst du nicht genauso aufgebracht wie ich."
"Aber das bin ich doch!", stieß ich gereizt aus, "Jede Nacht, wenn ich wieder nicht schlafen kann, wünsche ich mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Ich würde den Dienst nicht annehmen oder ich würde euch beiden direkt von meinen Symptomen erzählen und euch da raus schaffen. Bevor irgendwer von uns auch nur sieht, was die Bombe angerichtet hat. Ich wünsche mir, dass ich mehr für Simon da gewesen wäre, so dass er jetzt hier bei uns sein könnte und diese Diskussion führen könnte. Aber das kann ich alles nicht. Und ich weigere mich eine Religion oder eine Minderheit oder eine Hautfarbe dafür verantwortlich zu machen, was drei gestörte Männer getan haben. Ich weigere mich, mich von diesem Schmerz auffressen zu lassen, bis ich nur noch eine Hülle meiner selbst bin."
Meine Hände zitterten, als ich sie in meinem Schoß ablegte. Beide Hände zu Fäusten geballt. Den Schmerz durch meine Nägel, die sich in meine Handflächen bohrten, ignorierte ich.
"Der einzige Schmerz den ich in mir tragen will und muss, ist der Schmerz, dass wir nicht mehr Menschen helfen konnten, dass wir nicht mehr retten konnten. Dieser Schmerz erinnert mich daran, dass wir noch leben. Das wir überlebt haben."
"Das ist ja ganz süß. Du klingst mehr, als wärst du in einen Psychologieratgeber gefallen, als meine Freundin. Verdräng du nur weiter deine Gefühle, aber ich sage dir ganz klar, ich hasse sie! Ich hasse sie wirklich und sie sollen in der Hölle schmoren", stieß der Rotkreuzler abfällig aus, "Wenn ich könnte, würde ich sie selbst erschießen, für das was sie getan haben."
"Und du denkst wirklich, dass du dann besser wärst, als diese Menschen?", fragte ich genervt mit gerunzelter Stirn.
"Das sind keine Menschen, sondern Monster!", keifte Jan, der sich immer mehr aufregte. Wütend war er aufgesprungen und lief vor mir auf und ab im Zimmer.
"Das sind auch Menschen. Sie haben Familien und Freunde. Andere Menschen lieben sie und machen sich Sorgen um sie. Die verstehen wahrscheinlich genauso wenig, wie wir, warum die drei das gemacht haben. Wenn du sie umbringst, bist du nicht besser als sie. Dann hast du auch Leben genommen. Du sagst, sie haben es verdient. Aber die drei haben auch gesagt, dass die Menschen im Stadion es verdient hätten! Hör auf zu denken, wir wären so viel besser und so viel mehr wert als andere. Ja, sie haben fürchterliches getan, aber das gibt dir nicht das Recht, sie nicht mehr als Menschen zu bezeichnen oder zu denken du würdest etwas gutes tun, in dem du sie umbringst. Für Gewalt gilt das selbe, wie für Feuer. Man bekämpft es nicht mit der gleichen Waffe. Wenn du auf Gewalt mit Gewalt reagierst, kann nur noch mehr Gewalt die Folge sein. Willst du diesen Strudel wirklich lostreten?! Willst du genauso sein wie die drei? Dann los!", jetzt war ich diejenige, die schrie, "Na los doch! Töte im Namen deiner eigenen Überzeugung. Tu das selbe wie diese Männer! Töte, weil du denkst du wärst im Recht!"
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Der Anschlag *pausiert*
General FictionEs sollte ein ganz normaler Tag werden. Ein spannendes Fußballspiel zwischen der Eintracht und Schalke, während ich ehrenamtlich einen Dienst als Sanitätshelferin absolvieren würde. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, was ich an diesem Tag zu Ge...