Man erzählte mir später, dass ich in dieser Nacht einen Schlaganfall erlitt. Niemand konnte sich genau erklären, woher der Anschlag kam und was ihn verursacht hatte. Egal woher und warum, aber er rettete mir wahrscheinlich mein Leben. Auch das war etwas was die Ärzte mir versuchten weis zu machen.
Bei weiteren Untersuchungen wurde eine Schädigung meiner Claudicatio spinalis festgestellt. Die Kompression hatte zu einer Paraparese geführt. Anders ausgedrückt. Meine Beine, die vorher noch perfekt funktioniert hatten, waren nicht mehr nutzbar.
Voller Hass starrte ich den Rollstuhl an, der jetzt in meinem Zimmer stand. Ich sollte lernen, wie man damit umgeht. Wie ich mich ab sofort bewegen würde.
Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst?! Das war die erste Frage, die ich meinem Arzt gestellt hatte, nachdem ich aufgewacht war und mir eröffnet wurde, was nicht stimmt. Ich war so wütend. Die Ärzte hätten doch eigentlich sehen müssen, dass etwas mit meiner Wirbelsäule nicht stimmt. Sie hatten mich doch komplett durchgecheckt. War das nicht deren Job, solche Sachen zu erkennen?
Auch wenn ich wusste, wie egoistisch ich mich aufführte. So konnte ich doch nicht anders handeln und versank mehr und mehr in meinem depressiven Selbstmitleid. Ich hasste die Welt und diesen Rollstuhl. Ich machte jeden und alles für mein Unglück verantwortlich. Auch mich selbst. Hätte ich damals einfach direkt gesagt, was meine Symptome waren, hätte man mich sofort in Krankenhaus gebracht. Ich wäre untersucht worden und man hätte die Funktionalität meiner Beine vielleicht noch retten können.
Robin versuchte mich immer aufzuheitern, wenn er gerade eine Schicht bei mir hatte, aber am dritten Tag hatte er es wohl satt.
Ich hatte alle immer weggeschickt. Ich wollte weder meine Freunde noch meine Familie sehen. Niemand sollte zu mir kommen. Dafür hatte ich sogar einen riesigen Streit mit Ida und Trine angefangen. Die beiden waren so wütend und verletzt gewesen, dass sie nicht mal mehr versucht hatten mich zu besuchen. Ich laß auch nicht oder sah Fern. Drei Tage lang saß ich nur in meinem Bett, starrte den Rollstuhl oder die Wand an. Das Radio lief im Hintergrund und erinnerten mich an die täglich steigende Todesfall. Immer noch verstarben Menschen an den Folgen ihrer Verletzungen.
Eigentlich sollte mich da daran erinnern, dass es mich gut getroffen hatte, dass ich noch am Leben war. Aber es erinnerte mich nur daran, wie ich überhaupt im Rollstuhl gelandet war.
"Ok, jetzt reicht's", hörte das Robin schnauben. Ich wusste nicht, was er damit meinte, aber es war mir auch egal. Er verschwand einfach und für mehrere Stunden hatte ich meine Ruhe. Oder zumindest hoffte ich das. Mürrisch machte ich den Fernseher an.
Aber kurz nachdem Robin verschwunden war, kam Jan rein.
"Habe gehört du bläst Trübsal, weil du noch am Leben bist", meinte Jan herausfordernd. Ich verdrehte nur die Augen und wand mich von ihm ab.
Ohne auf mich zu achten, setzte er sich neben mich ins Bett. Er sagte nichts, nahm mir nur die Fernbedienung ab und schaltete in irgendeinen anderen Sender.
"Ich war das am Schauen", meinte ich trocken.
"Du solltest aufhören die 24 live Übertragungen zum Anschlag anzusehen. Das deprimiert doch nur noch mehr. Übrigens kommt gleich ein Psychologe. Er wurde vom DRK geschickt, um mit dir über den Einsatz zu reden. Würde uns garantiert gut tun."
"Ich will mit niemandem darüber reden", versuchte ich mich rauszureden.
"Tja, das liegt nicht an dir. Die Bereitschaftsleitung hat das vorgegeben. Die lassen uns außerdem keine ehrenamtlichen Dienste mehr machen, wenn wir kein psychologisches Gutachten über uns ergehen lassen", versuchte Jan mich von der Idee zu überzeugen.
"Erstens als ob das was bringt!", meinte genervt, "Außerdem schon mal daran gedacht, dass ich vielleicht gar keine Dienste mehr machen möchte?! Der letzte hätte uns beide fast getötet! Er hat Simon getötet. Er hat mich in den Rollstuhl gebracht! Er hat unser Leben verändert und nicht zum Besseren."
"Denkst du wirklich so schlecht über das alles? Meine Güte Mila! Du bist am Leben! Ist das denn gar nichts wert? Was ist nur los mit dir? Wo ist die junge Frau, die mir erklärt hat, sie will keine schlechte Laune haben, weil sie darin keinen Sinn sieht?! Die junge Frau, die das Ehrenamt ausübt, nicht weil sie sich so sehr für Medizin interessiert, sondern weil sie Menschen helfen will? Die Frau, die in jeder Situation gekämpft hat und sich niemals hat unterkriegen lassen? Weder im Studium, noch im Ehrenamt und schon gar nicht von den Ultras im Stadion?! Du bist doch keine andere Person, weil du nicht mehr laufen kannst! Du bist nicht plötzlich weniger wert!", beteuerte Jan aufrichtig.
"Ich bin aber nichts mehr als Sanhelferin wert. Ich kann nicht laufen, nicht rennen, nicht knien. Wie soll ich so Menschen helfen?", fragte ich wütend. Das erste mal sah ich ihn wieder an. Der harte und unverständliche Blick von Jan wurde weicher, als er meine nassen Wangen bemerkte. Sachte strich er mir mit seinem Daumen die Tränen vom Gesicht.
"Aber der Begriff Sanhelferin definiert dich doch nicht", flüstert er mir zu, "Was ist nur aus der starken, selbstbewussten Frau geworden?"
"Sie musste über Leichen klettern, Tote links liegen lassen und stand in einer Ruine gesäumt von menschlichen Überresten. Jan, wir haben unser Leben an zweite Stelle gesetzt. Dabei kamst du gut aus der Sache raus. Ich wäre zwei Mal fast gestorben. Erst an den Hirnblutungen und dann am Schlaganfall. Das ich "nur" im Rollstuhl sitze, ist ein Wunder. Aber das ist nicht mein Problem. Sondern ich habe mich psychisch überschätzt und jetzt zahle ich den Preis dafür."
"Und genau deswegen müssen wir mit dem Psychologen reden. Wir können das zusammen machen. Wir haben eine Bombe gemeinsam überlebt, da schaffen wir das doch mit links", scherzte Jan. Aber es war einfach noch viel zu früh für diesen makaberen Witz.
"Er wird in einer Stunde hier sein und wir machen das gemeinsam. Wir müssen mit jemandem über alles reden. Ob du danach jemals wieder einen Dienst für das Rote Kreuz machen willst, liegt ganz bei dir. Wenn du das jetzt durchziehst, kannst du dich danach noch immer für alles entscheiden. Du kann Dienste und das gesamte Ehrenamt niederlegen und nie wieder etwas in der Richtung tun. Du musst nie wieder das Stadion betreten, aber du kannst auch dich dafür entscheiden und weiter helfen. Das geht auch im Rollstuhl. Aber lass dir die Wahl nich nehmen. Zieh die Therapie mit mir zusammen durch."
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Der Anschlag *pausiert*
General FictionEs sollte ein ganz normaler Tag werden. Ein spannendes Fußballspiel zwischen der Eintracht und Schalke, während ich ehrenamtlich einen Dienst als Sanitätshelferin absolvieren würde. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, was ich an diesem Tag zu Ge...