Leer starrte ich an die Wand. Man hatte mir die Fernbedienung weggenommen, damit ich nicht mehr den gesamten Tag und die gesamte Nacht die Berichterstattungen über den Anschlag ansah.
Gelangweilt drehte ich der Zimmertür den Kopf zu, als diese sich öffnete. Anscheinend war es Zeit für die Visite. Ein Haufen Menschen betraten mein Zimmer. Mehr als es wahrscheinlich sein sollten.
Einer der Assistenzärzte ratterte meinen "Unfall" und die daraus folgenden Schäden herunter. Ein anderer erklärte was unternommen wurde und wie meine Behandlung weiter verlaufen würde.
"Sie sind wahrlich eine Heldin", flüsterte mir eine junge Ärztin aufgeregt zu.
Wütend sah ich sie an.
"Eine Heldin?!", fragte ich genervt, "Das höre ich schon ständig in den Nachrichten. Aber meiner Rechnung nach habe ich wirklich nichts bewirkt!"
Erschrocken zuckte die Ärztin zurück. Alle Eindringlinge in meinem Zimmer sahen mich verwirrt an.
"Wie meinen Sie das?", fragte mein Arzt nach. Ich konnte mir schon ganz genau vorstellen, wie er gerade einen Vermerk machte, dass ich einen Besuch bei einem Psychologen bräuchte.
"Nun ja, ganz einfach. Jan und ich haben an diesem Tag gezählt. Wir hatten 34 Verletzte Personen und die Leichen, die die man noch als Menschen erkennen konnte waren 27. Wenn wir davon ausgehen das noch einmal genauso viele Menschen gestorben sind, aber nicht mehr zu erkenne waren, kommen wir auf eine Zahl von 54 Toten. In den Nachrichten wird aber von mehr als siebzig Toten in der Westkurve gesprochen. Also erklären Sie mir, woher kommen noch mehr Tote, wenn ich doch so eine Heldin bin?!", fragte ich herausfordernd, "Sie fühlen sich bestimmt auch als eine Heldin, weil sie hier die Verletzten versorgt haben. Aber dabei vergessen Sie, das ich Leichenteile beiseite schieben musste, um Ihre Verletzten überhaupt zu finden. Sie vergessen, das da draußen Familien sind, die niemals eine richtige Erklärung dafür bekommen werden, was passiert ist und warum ihre Mutter, ihr Vater, ihre Geschwister oder ihre Kinder niemals eine richtige Beerdigung bekommen können, weil nicht alles von ihnen gefunden wurde!"
"Fast achtzig Menschen haben an diesem Tag allein in der Westkurve ihr Leben gelassen und alles was ich in den Nachrichten höre, sind Anschuldigungen gegen Merkel, weil sie mehr Flüchtlinge rein gelassen hat oder irgendwelche Beschuldigungen gegen religiöse Gruppierungen. Nicht einmal - habe ich etwas über die Opfer gehört. Oder hier in der Zeitung", aufgebracht warf ich eine Zeitung nach der Ärztin. Auf der ersten Seite prangerte ein Bild von einem Rot Kreuz Helfer. Er saß auf dem Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Sein Gesicht hatte er in einen Händen vergraben. Es brauchte nicht viel, um zu verstehen, dass er gerade am Weinen war. Neben ihm saß ein anderer Helfer, der versuchte ihn zu trösten. Man konnte die Gesichter nicht erkenne, aber ich kannte mein Team. Ich wusste das waren Jan und Simon. Sie hatten mich gerade in den RTW geladen und saßen jetzt in der Wache eins.
"Bilden wir weinende, komplett ausgelaugte Menschen ab, dann kann das Grauen vielleicht besser betitelt werden. Aber lasst uns nicht über die Opfer reden, sondern darüber, wie man die Täter aus dem Land werfen kann."
Tränen liefen über meine Wangen. Wieso war es unserer Welt nur so wichtig geworden Helden zu finden und Täter zu bestrafen. Wieso interessierte sich niemand mehr für die Menschen, die wirklich unsere Hilfe brauchten. Aber das war wahrscheinlich wie der Klimawandel - nicht ernst zu nehmen.
"Wir sollten Sie wieder alleine lassen. Draußen warten Freunde von Ihnen. Wir werden sie reinschicken", meinte mein Arzt freundlich.
"Wenn Jan da ist, lassen Sie bitte nur ihn rein", flüsterte ich. Robin machte sich sofort auf den Weg und kam nur mit Jan im Schlepptau zurück.
"Du weißt aber schon, dass ich der selben Meinung, wie die Zeitungen bin?", fragte er grinsend und lehnte sich an die Tür. Er versuchte locker zu wirken, aber seine Anspannung konnte ich bis zu mir spüren.
"Woher-?", began ich meine Frage.
"Man hat deine Tirade bis auf den Flur gehört."
Ich nickte stumm. Vorsichtig traute Jan sich näher ran. Wir waren nie wirklich enge Freunde gewesen. Wir hatten öfter Dienste zusammen gemacht, aber das war auch schon alles. Das Rote Kreuz und der OV waren unsere einzigen Verbindungen.
"Ich kann nicht schlafen", flüsterte ich, "Jedes Mal sehe ich wieder den rosa Nebel. Dieser beschissene Nebel, der für Pyrotechnik gehalten wurde. Und dann diese ganzen Leichen. Die Körperteile. Wir - wir-" Meine eigenen Schluchzer hielten mich davon ab weiter zu sprechen.
"Wir mussten sie zur Seite schieben, als wären sie Dreck, damit wir bei den Menschen, die darunter begraben waren den Puls zu messen konnten und die Atmung zu kontrollieren, nur um dann festzustellen, dass sie beides nicht mehr hatten", beendete Jan meinen Satz.
"Alle wollen es verstehen, aber das können sie einfach nicht", flüsterte ich mit gebrochener Stimme weiter.
"Du kannst mit mir reden. Ich war dabei. Ich verstehe dich", meinte Jan, auch ihm liefen die Tränen über die Wangen. "Ich kann auch nicht schlafen", fügte er mit zittriger Stimme noch hinzu.
Auffordernd klopfte ich neben mich auf das Krankenbett. Sofort kam er zu mir. Gemeinsam lagen wir dicht aneinander gekuschelt im schmalen Bett und sagten nichts. Wir weinten gemeinsam. Wir weinten um Menschen, die wir nicht kannten, die wir niemals kennen würden. Wir trauerten um die Angehörigen. Und wir trauerten um uns. Denn wir hatten an diesem Tag ein Stück unserer unbeschwerten Art verloren. Keiner von uns würde jemals wieder das Stadion betreten ohne dabei an diese fürchterlichen Ereignisse zu denken. Wir hielten uns gegenseitig und versuchten uns gegenseitig eine Stütze zu sein.
"Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre Simons Weg zu folgen. Sich umzudrehen und zu gehen. Nicht wieder zu kommen", flüsterte ich in die Stille hinein.
"Emilia, ich muss dir etwas sagen. Simon, er-", Jans Stimme versagte. Schwer musste er schlucken, bevor er wieder ansetzen konnte, den Satz zu beenden. Aber er schaffte es nicht. Weinend brach dieser gestandene Mann in meinen Armen zusammen.
"Nein", flüsterte ich. Geschockt sah ich meinen Teampartner an. Meine Unterlippe begann zu zittern, "Bitte, nicht!"
Aber der Blick von Jan verriet mir alles, was ich wissen musste. Ich konnte nur noch den Kopf schütteln. Mein Mund öffnete sich, aber ich schaffte es einfach nicht irgendwelche Wörter zu formen, die nur annähernd ausdrückten, was ich gerade fühlte, was in mir vorging.
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Der Anschlag *pausiert*
Aktuelle LiteraturEs sollte ein ganz normaler Tag werden. Ein spannendes Fußballspiel zwischen der Eintracht und Schalke, während ich ehrenamtlich einen Dienst als Sanitätshelferin absolvieren würde. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, was ich an diesem Tag zu Ge...