Erst gestern waren die Ultras bei mir im Krankenhaus gewesen und schon jetzt saß ich hier in meinem Zuhause, in meinem nach unten verlegten Zimmer und es fühlte sich alles so falsch an. Als sollte ich nicht hier sein. Nicht in diesem Zimmer, nicht in diesem Haus - nicht auf dieser Welt.
Unschlüssig starrte ich auf mein Handy. Ich wollte jemanden anrufen. Jemand der es verstehen würde. Mein Therapeut oder Jan. Aber keine der beiden Optionen schien mir nur annähernd die richtige Wahl zu sein. Schnell tippte ich eine kurze Nachricht bevor ich wütend mein Handy auf mein Bett warf.
Es war ein ganz normaler Wochentag und meine Mutter war am Arbeiten. Ohne wirklich einen Plan zu haben was ich gerade tat, packte ich meine Tasche und verließ das Haus. Ich rollte mich durch unseren kleinen Ort. Plötzlich war auch dieser Spaziergang etwas komplett anderes. Ich hatte Schwierigkeiten mich durch die Straßen, in denen ich aufgewachsen war durchzumanövrieren. Durch den Perspektivwechsel änderte sich auch mein Gefühl für den Ort. Alles fühlte sich neu und ungewohnt an.
Ich wusste nicht ganz, wie ich dort gelandet war, aber plötzlich fand ich mich vor Simons Grab wieder. Frische Blumen lagen darauf und auch eine Kerze brannte für ihn. Simon hätte das hier gehasst. Ein Ort an dem Menschen traurig sind.
"Hätte nicht gedacht, dass du dich meldest oder das ich dich hier wirklich finde", hörte ich Adrian hinter mir.
"Eigentlich wollte ich dir auch nicht schreiben", lachte ich ein falsches Lachen, "Aber irgendwie musste ich mal mit jemand anderem reden als Jan."
"Jan war der andere Typ mit dem du im Stadion warst. Und wer ist das?", meinte Adrian und zeigte dabei auf den Grabstein vor uns.
"Simon. Er war mit uns im Stadion. Er hat uns geholfen. Ohne ihn wären noch mehr Menschen gestorben", erklärte ich liebevoll.
"Was ist passiert, hatte er auch Folgeschäden von der Explosion, so wie du?", fragte Adrian nach. Traurig sah ich den jungen Mann an.
"Nein, er hat das selbst entschieden. Simon hat mit niemandem geredet, aber ich denke, all das was er gesehen hat, er konnte damit nicht umgehen und es nicht verkraften. Also hat er für sich nach einem Ausweg gesucht", erklärte ich verletzt. Wieder einmal glitzerten Tränen in meinen Augen und vernebelten mein Sichtfeld.
"Er hat Selbstmord begangen?", fragte Adrian schockiert. Ich nickte nur. "Emilia komm es wird kalt, lass uns irgendein Café oder ein Restaurant oder so etwas suchen."
"Na gut", flüsterte ich. Adrian fing einfach an mich aus dem Friedhofsgelände zu schieben. Seufzend akzeptierte ich mein Schicksal. Nicht weit vom Haupteingang lief Adrian zielstrebig auf ein Auto zu. Er öffnete die Beifahrertür für mich. Eigentlich wollte ich mich selbst gerade ins Auto heben, da hatte Adrian mich schon aus meinem Rollstuhl gehoben. Erschrocken hielt ich mich an ihm fest.
"Das ist zwar wirklich nett, aber das kann ich schon ganz alleine", räusperte ich mich, mit hochgezogener Augenbraue. "Wenn ich deine Hilfe brauche, sage ich dir das, das nächste Mal."
"Oh, ja klar!", sprach Adrian entschuldigend, "Tut mir leid. Ich wollte nur helfen."
"Ich weiß, aber ich kann nur nicht mehr laufen. Alles andere funktioniert sehr gut. Ich kann reden und meine Arme sind wahrscheinlich stärker als deine", grinste ich ihm zu, als er mich vorsichtig ins Auto setzte. Nachdem er meinen Rollstuhl im Kofferraum verstaut hatte, setzte er sich neben mich, hinters Lenkrad.
"Also wo geht es hin."
Meiner Wegbeschreibung folgend standen wir schon nach wenigen Minuten vor einem Mehrfamilienhaus.
"Wo sind wir hier?", fragte Adrian nach, während er mich dabei beobachtete, wie ich zurück in meinen Rollstuhl sackte und meine Beine sortierte.
"An meiner Wohnung", mit dem Kopf nickte ich zur Souterrainwohnung, "Aber dafür brauche ich deine Hilfe."
"Der Pfleger, der uns zu dir gebracht hat gestern hatte irgendwas gesagt, von wegen, dass du zu deiner Mutter ziehen würdest."
"Oh ja, das bin ich auch. Sie macht sich zu viele Gedanken um mich. Ich hatte bei ihr immer noch ein Bett, aber eigentlich hatte ich meine eigene Wohnung. Ich bin 21, da will man doch mal sein eigenes Reich."
Adrian half mir die drei Stufen zu überwinden, die mich von der Eingangstür trennten. Noch sah alles so aus, wie ich es vor mehr als einem Monat verlassen hatte. Anscheinend hatte meine Mutter, als sie Kleidung für mich geholt hatte, auch ein bisschen durch geputzt.
Neugierig sah Adrian sich in meiner kleinen, aber gemütlichen ein Zimmer Wohnung um. Er blieb an meiner riesigen Pinnwand, mit mindestens hundert Fotos darauf, hängen. Viele davon zeigten mich mit Freunden oder Familienmitgliedern, aber andere waren Aufnahmen von mir und anderen Rot Kreuzlern bei Diensten.
"Möchtest du etwas trinken?", fragte ich.
"Ja gerne", murmelte Adrian abwesend. Er starrte weiterhin Bilder an.
Der Kühlschrank war zum Glück niedrig, aber dann kam mein Problem mit den Gläsern. Ich konnte weder die Gläser noch den Schrank, in dem sie waren erreichen. Ohne das ich etwas sagen musste, kam Adrian an und holte die Gläser aus dem Schrank.
"Du weißt aber schon, dass eigentlich ein striktes Handyverbot bei den Spielen ist, das gilt auch für dich?", fragte er grinsend. Neckisch zwinkerte er mir zu während er mir ein Foto in die Hand drückte. Darauf waren Simon und ich zu sehen. Es war ein sehr unprofessionelles Bild. Ich streckte die Zunge raus und Simon schielte mit einer seltsamen Grimasse auf seinen sonst feinen Gesichtszügen. Deutlich war zu erkennen, dass hinter uns nicht nur der Ultrablock mit den Fahnen am Feiern war, sondern auch, dass das Spiel noch in vollem Gange war.
"Oh ich weiß, aber es hat sich nie jemand beschwert. Wir sollen Bilder machen, damit wir auf Facebook und Instagram Werbung machen können für das Ehrenamt. Aber das Bild da ist entstanden, als wir keine Lust mehr hatten. Dorian, der das Bild gemacht hat, hatte ständig etwas auszusetzen. Es war ihm nie professionell genug oder schön genug oder sonst was. Da haben Simon und ich kurzerhand entschieden es perfekt zu machen", erzählte ich. Grinsend betrachtete ich das Bild, das mit so vielen Erinnerungen behaftete war.
"Simon, der Simon an dessen Grab wir eben standen?", fragte Adrian erschrocken. Ich nickte ihm zu. "Er war noch so jung. Ich hatte irgendwie erwartete, dass er älter gewesen wäre."
"Nein, gerade siebzehn. Er hatte noch nicht einmal die Schule abgeschlossen", flüsterte ich, als würde ich jemanden beleidigen, wenn ich diese Tragödie zu laut aussprechen.
"Oh! Das tut mir leid. Ich wollte nicht-"
"Nein, nein alles gut", lächelte ich gequält.
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Der Anschlag *pausiert*
General FictionEs sollte ein ganz normaler Tag werden. Ein spannendes Fußballspiel zwischen der Eintracht und Schalke, während ich ehrenamtlich einen Dienst als Sanitätshelferin absolvieren würde. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, was ich an diesem Tag zu Ge...