Durch Kira waren wir wirklich gut an unser Ziel gekommen und zum Glück hatten wir eine moderne Straßenbahn und ich konnte auf die Hilfe von meinen beiden Begleitern verzichten.
Zusammen mit Adrian stand ich gerade im Aufzug. Kira war die Treppen fast hochgestürmt und hatte uns einfach zurückgelassen. Oben angekommen fanden wir sie auf einer kleinen Holzbank vor einem riesigen Gemälde. Wie ausgewechselt saß sie davor. Ganz leise und still starrte sie das Gemälde an, als könnte es ihr die Antwort auf ihre ungestellte Frage geben. Ich kannte ihre Frage und sie würde niemals eine Antwort darauf finden. Sie würde nur irgendwann anfangen die Frage ein bisschen weniger zu stellen.
"Was wäre wenn?"
Was wäre, wenn sie nicht weggerannt wäre, würden mehr Freunde überleben? Wenn sie auf eine Freundin gehört hätte. Wenn sie nicht gegangen wäre. Wenn, wenn, wenn.
Keiner konnte diese Frage beantworten und ein stummes Gemälde erst recht nicht. Aber es schien sie zu beruhigen. Ganz entspannt saß sie dort und gab keinen Mucks von sich.
Ich wollte sie nicht stören und rollte mich deswegen in den nächsten Raum. Die hohen Decken mit den riesigen Gemälden, gaben ein Gefühl wieder, als wäre man klein und unbedeutend und auch meine Probleme begannen zu schrumpfen. Ich fing an zu verstehen, warum es Kiras Therapie war hier zu sein.
Ich saß vor einem Bild von Rembrandt. Fasziniert sah ich mir an, wie das Licht auf den Schatten traf, wie Gut und Böse kollidierten und trotzdem eine Einheit schufen. Wir brauchen beides im Leben, aber nur wenn es sich ausgleicht. Am Tag des Anschlages hatte es sich nicht ausgeglichen. Und genau das war, was uns alle störte, was uns den Verstand raubte. Was mich dazu brachte Unschuldige anzubrüllen, Kira sich von Bildern therapieren zu lassen, Jan nicht mehr schlafen zu können und Simon - Simon hatte es in den Tod getrieben.
"Irgendwie hatte ich erwartet, dich vor einem fröhlicheren Bild vorzufinden", hörte ich Adrian neben mir murmeln. "Vielleicht dort drüber bei der Himmelfahrt Marias von Reni."
"Ein schöner Gedanke. Unsere Freunde im Himmel", antwortet ich, "Aber das setzt wieder voraus, dass sie auch in der Hölle hätten landen können. Ich denke sie sind an einem besseren Ort, wo auch immer der sein mag und was auch immer er sein mag."
Nickend setzte Adrian sich auf die Bank neben mich.
"Ich denke, es geht ihnen jetzt besser. Deinen wie meinen Freunden. Sie haben ihren Frieden gefunden, wir müssen nur noch unseren finden", sagte der junge Mann ganz leise. Seine sanfte Stimme traf mich tief in mir drin. Sofort spürte ich das stechen in meinen Augen. Ich wollte hier nicht weinen. Aber die Tränen liefen einfach.
"Es fühlt sich an, als würde ich ihn vergessen und alles einfach ignorieren, wenn ich meinen "Frieden" finden will", flüsterte ich mit gebrochener Stimme zurück.
Adrian war ans Ende der Bank gerutscht und saß jetzt direkt neben mir. Tröstend griff er nach meiner Hand.
"Keiner von ihnen wird jemals vergessen werden, dafür werden wir sorgen", meinte er stark.
Wir sahen uns nicht an. Ganz still saßen wir da. Die Tränen versiegten und trotzdem hielten wir uns noch an den Händen und starrten vor uns auf das Gemälde. Ich wusste nicht, wie lange wir so da saßen, aber nach einiger Zeit setzte Kira sich ebenfalls zu uns. Sie nahm Adrians zweite Hand in ihre.
"Wir sollten so langsam gehen", sagte Kira nach einer gefühlten Ewigkeit.
Nickend sah ich zu ihr. Dankbar sah ich zu Adrian und ließ seine Hand los. Anscheinend konnte nicht nur Jan mich aus meinem tiefen Loch herausholen, sondern auch Adrian.
Ohne mich zu beachten, war die aufgedrehte Kira zurück, die mich einfach wie ein Kleinkind durch die Gegen schob. Ich atmete tief ein und aus. Sie meinte es nur gut, also ließ ich es über mich ergehen.
"Hey Kira, lass mich nur machen", erlöste Adrian mich. Er schob mich nur zwei Meter, bevor er mir die Kontrolle über meinen Stuhl zurückgab und neben mir lief. Ob Kira es mitbekam wusste ich nicht, wenn ja, ließ sie sich nichts anmerken.
"Studierst du eigentlich auch an der Goethe?", fragte sie nach.
"Ja, habe und werde ich wieder", grinste ich ihr zu.
"Die Welt ist wirklich ein Dorf. Wahrscheinlich saßen wir schon Mal gleichzeitig am selben Ort oder haben zur selben Zeit in der Bibliothek gelernt. Wir hätten alle Freunde sein können, haben uns aber nie gesehen, außer mal bei Spielen, wo wir uns nicht beachtet haben", sagte die junge Frau erstaunt, "Vielleicht waren wir sogar auf den selben Partys!"
Sie zählte immer mehr Sachen auf, bei denen wir uns vielleicht hätten begegnen können, es aber nie getan hatten.
Erst am Bahnsteig hörte sie auf.
"Ok, ihr zwei. Seid mir nicht böse, aber ich wollte mich zum Abendessen noch im einer anderen Freundin in der Stadt treffen. Ich würde euch also jetzt alleine lassen. Mila, es war unglaublich schön, dass du mitgekommen bist. Das sollten wir öfter machen."
Überschwänglich beugte sie sich zu mir herunter und umarmte mich feste. Schnell ließ sie mich los und sah aufgeregt zu Adrian.
"Oh!", stieß sie turbulent hervor, "Was ist mit nächste Woche Samstag? Was machst du da?"
"Bisher noch nichts", gab ich beunruhigt zurück.
"Dann kommst du mit Adrian, und mir mit den Palmengarten. Bring auch Jan mit!" Ohne noch auf meine Antwort zu warten, war sie schon verschwunden. Über ihre Schulter rief sie mir noch zu, dass wir uns dann nächste Woche sehen würden.
"Ich weiß nicht, ob Jan Zeit hat", erklärte ich Adrian entschuldigend.
"Das ist schon ok. Wenn du keine Lust hast, musst du auch nicht mitkommen. Ich weiß Kira kann manchmal etwas ... nun ja ... sagen wir einnehmend sein", grinste er mir schief zu. Es war seine Art sich dafür zu entschuldigen, wie seine Freundin sich gerade aufgeführt hatte.
Adrian setzte sich neben mich in die Bahn, auf einen der Klappstühle.
"Es war wirklich schön, dass du heute dabei warst", lächelte er mich an.
"Ich hatte es auch nicht erwartet, aber es war wirklich schön."
"Wieso dachtest du, es könnte nicht schön werden?", hakte Adrian besorgt nach.
"Na ja, mit meinem Rollstuhl ist es nicht immer einfach und ich wollte euch keine Umstände machen. Ihr habt mich schon eingeladen. Wie könnte ich da noch verlangen, dass ihr die ganze Zeit auf mich Rücksicht nehmt?", gestand ich ihm.
"Für dich würden wir alles machen. Unterschätz dich nicht. Wir mögen dich alle sehr", grinste Adrian mich wieder an.
"Aber ihr kennt mich doch überhaupt nicht", stellte ich verwirrt fest. Mit gerunzelter Stirn beobachtete ich, wie Adrian die Bahn verließ. Er dreht sich noch einmal im gehen halb zu mir um, zuckte aber nur mit den Schultern, bevor sich die Türen hinter ihm wieder schlossen und die Bahn mit mir in ihr weiter fuhr.
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Der Anschlag *pausiert*
General FictionEs sollte ein ganz normaler Tag werden. Ein spannendes Fußballspiel zwischen der Eintracht und Schalke, während ich ehrenamtlich einen Dienst als Sanitätshelferin absolvieren würde. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, was ich an diesem Tag zu Ge...