Kapitel 1

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Jemanden zu verlieren, mit dem man sein ganzes Leben verbracht hat, ist ein verdammt beschissenes Gefühl.

Erst sucht man nach einem Grund und dann nach einem Schuldigen und irgendwann landet man wieder am Anfang und weiß überhaupt nichts mehr.

Das wurde mir spätestens dann klar, als der Pastor sich räusperte und seinen Grund offenbar schon gefunden hatte:

„Der Herr hat gegeben, und der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!"

Ich rutschte unwohl auf der harten Holzbank umher, die bei jeder Bewegung ein klägliches Knarzen von sich gab, und versuchte die heißen Tränen wegzublinzeln, die der Schmerz des Verlustes mir in die Augen trieb.

In mir tobte ein Sturm, der nichts im Vergleich zu dem Wetter draußen vor der Tür war. Die Äste peitschten mit einer Kraft gegen die bunten Bleiglasfenster, dass ich Angst hatte, sie würden die Scheiben zerschlagen. Der Regen fiel literweise vom seit Tagen zugezogenen Himmel und bildete Pfützen, die ineinander mündeten und kleine Seen auf den Straßen und Gehwegen formten.

Trotzdem würde ich lieber da draußen im Unwetter stehen, als noch eine weitere Sekunde auf dieser verdammten Bank zu verharren und das Schluchzen von Jessica und Mum zu ertragen, bei dem sich mir jedes Mal krampfhaft der Magen zusammenzog.

Ich hasste das alles. Diese Trauerzeremonie, dieses bedrückende Gefühl, das mir jedes Mal fast die Luft zum Atmen nahm, gerade so, als hätte jemand einen Faden um meine Kehle gelegt und zugezogen und am allermeisten hasste ich den Gedanken, dass Sally weg war.

Mein Blick huschte durch den Raum und suchte nach einem Fixpunkt, den ich bis zum Ende dieser Rede anstarren konnte, aber immer wieder driftete er ab zu dem Bild, das eingerahmt auf dem Altar neben dem Pastor stand.

Die Erinnerung an den Tag, an dem es aufgenommen worden war, blitzte vor meinem inneren Auge auf, noch bevor ich sie unterdrücken konnte.

Für einen Augenblick konnte ich sehen, wie Sally den Kopf schüttelte, um das Wasser aus ihren blonden Locken loszuwerden. Den ganzen Tag über hatte es schon nach Algen und frisch gemähtem Gras gerochen. Das Wasser des Sees rauschte in der Erinnerung in meinen Ohren und vermischte sich mit Sallys freudigem Lachen, das so ansteckend war wie Sommerschnupfen.

Kaum zu glauben, dass dieser Tag am See erst wenige Wochen her war.

Das Klackern von Jessicas Schuhen riss mich aus meiner Erinnerung, die mir wie Sand aus den Fingern rann und einem Mal so weit weg wirkte, dass ich sie kaum noch zu fassen bekam.

Jeder ihrer Schritte schien eine Bürde zu sein, unter der sie ein wenig mehr zusammensackte. Erst jetzt erkannte ich, wie alt sie eigentlich schon war. Tiefe Falten zogen sich über ihr Gesicht wie Risse im trockenen Boden und ihre Augen waren glasig und angeschwollen. Sie sah keineswegs aus wie die heitere Frau, die ich kannte.

„Vielen Dank-"

Ihre Stimme brach und sie verschluckte Luft in dem Versuch, ein Schluchzen zu unterdrücken.

Auch beim zweiten Anlauf zitterten ihre Stimmbänder so sehr, dass sie sich räuspern musste und den Blick auf den Zettel vor ihr gesenkt hielt.

Sie tat mir leid.

Es war schwer, die beste Freundin zu verlieren, aber was für ein unbeschreiblich schlimmes Gefühl es für Jessica sein musste, wollte ich mir überhaupt nicht ausmalen.

„Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid. Sally hat sich immer glücklich geschätzt, solche tollen Menschen an ihrer Seite zu wissen.", begann sie schließlich unter Tränen, die sie sich immer wieder hektisch mit dem Handrücken von den Wangen wischte.

lavendertea [beendet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt