Kapitel 19

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Eine Weile war es leise um uns herum und keiner sagte ein Wort. Ich war mir sicher, dass ich mich nicht hätte zusammenreißen können, wenn ich noch ein Wort hätte sagen müssen. Shane sah in die Ferne und seine Stimme klang fremd, als er ansetzte.

„Rachel Hendrix, die durchgeknallte Irre, hat mich während der achten Klasse nicht in Ruhe gelassen. Jeden Morgen hat sie mir vor meinem Schließfach aufgelauert und mir ihre komischen Butterbrote geschenkt, die so richtig ekelhaft gerochen haben. Und einmal hat sie mir sogar zehn verdammte rote Rosen, verteilt über alle Klassenräume der Schule, auf meinen Sitzplatz gelegt. Dieses Mädchen hatte so dermaßen einen an der Klatsche, dass ich Jessica einmal ernsthaft gefragt habe, ob ich nicht die Schule wechseln kann. Aber dann hat Salana Rachels Vater gesteckt, dass seine Tochter etwas von einem sehr viel älteren Kerl mit einer Harley Davidson und einem gekräuselten Bart bis zur Brust will. Seitdem hat Rachel mich nie wieder auch nur schief angeguckt."

Was bedeutete das schon? Sally wollte Rachel bei ihrem Vater in die Pfanne hauen, weil sie sie nicht leiden konnte. Wie kam Shane darauf, dass Sally es für ihn getan hatte? Diese Aktion würde jetzt genauso gut zu dieser lügenden, intriganten und hinterhältigen Sally passen, wie es früher zu der alten Sally gepasst hätte.

„Und als du die Windpocken hattest und nicht mit auf Klassenfahrt konntest, da hat Salana so getan als hätte sie die Grippe, damit du die ganzen Tage nicht alleine zu Hause verbringen musstest. Ich glaube sie hat dir das nie gesagt, aber sie wollte immer ein wenig mehr wie du sein."

Wie ich? Dass ich nicht lache. 

Sally war der leuchtende Stern. Ich war der Meteorit, der im Sturzflug auf Gestein traf.

Und selbst an diesen Worten von Shane zweifelte ich mittlerweile. Vielleicht war sie nicht mitgefahren, weil die meisten ihrer Freunde in einer anderen Klasse gewesen waren. Oder vielleicht war sie lieber zu Hause geblieben, als auf Klassenfahrt zu fahren, um das ganze Wochenende mit Brent zu verbringen. Was wusste ich schon über sie?

„Salana war nicht perfekt, aber das wollte sie ja auch nie sein. Alle haben bloß zu hohe Erwartungen an sie gestellt, ohne darüber nachzudenken, dass sie ein Mensch wie alle anderen war, ein Mensch mit Fehlern und Schwächen eben. Aber sie hat die Menschen beschützt, die sie geliebt hat. Sie hätte alles für Jessica und dich getan und nur weil du jetzt Dinge über sie erfährst, die nicht in dein Bild passen, das du von ihr hattest, bedeutet das nicht, dass sie ein anderer Mensch war. Sie war schon immer Salana, sie konnte ihre schlechten Seiten einfach nur besser verbergen als alle anderen."

Ich schluckte. Vielleicht hatte Shane recht. Er kannte Sally besser als Brent, besser als Jessica, selbst besser als ich. Nicht, weil er ihr zuhörte und ihr glaubte, was sie sagte, sondern weil er ihr zuhörte und deshalb erkannte, was er lieber nicht glauben sollte. Er kannte Sally so gut, dass er die Wahrheit hinter ihren Lügen gesehen hatte.

„Sie hat dich auch geliebt, Shane.", sagte ich, war mir meiner eigenen Worte aber nicht mehr sicher. Shane lächelte schwach und sah nachdenklich auf die Straßenlaterne auf der gegenüberliegenden Seite, die unaufhörlich vor sich hinflackerte.

„Früher hat sie das vielleicht einmal, ja." Er nickte und grub seine Hände in die Taschen seiner Jacke, ehe er sich räusperte und die Stille wie ein fragiles Blatt Papier zwischen seinen Fingern zerriss.

„Ich sollte dich jetzt nach Hause fahren, es ist schon spät."

Ich fischte mein Handy aus der Tasche und sah auf die Uhr. 01.58 Uhr.

Zeit fürs Bett.

Ich stieß mich mit einem Seufzen von dem modrigen Zaun ab, an dem ich gelehnt hatte, und steuerte Shanes Auto an, das etwas weiter die Straße herunter geparkt hatte.

lavendertea [beendet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt