Kapitel 26

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Ich schob mein Fenster nach oben und starrte auf das Gras, das sich gute drei Meter unter mir befand. Wie viel es von einem Sturz wohl abpolstern würde? Vermutlich nicht genug, ohne mit einer weiteren Verstauchung davonzukommen.

„Ich kann das nicht. Nicht mit meinem Bein.", rief ich im Flüsterton nach unten, wo Mitch und Viola als Bonnie und Clyde verkleidet die Arme in die Hüften stemmten und mich anstarrten, als hätte ich Flügel, mit denen ich so einfach nach da unten flattern konnte.

„Hast du hier vielleicht ne Leiter oder so?", fragte Viola und sah sich in meinem Garten um. Das Grundstück zu Jessica war durch meterhohe Hecken getrennt, die man leicht überblicken konnte. Von hier oben hatte ich den perfekten Blick auf Shanes Zimmer, das in Dunkelheit und Einsamkeit dalag. Ich nickte. „In der Garage."

Viola und Mitch diskutierten und Mitch machte sich schließlich stampfend davon. Kurz darauf kam er mit einer großen Treppenleiter zurück, die mein Vater für die Weihnachtsbeleuchtung letztes Jahr gekauft hatte.

„Das sollte gehen.", sagte Mitch. Ich zögerte. Wenn ich fallen würde, wäre ich geliefert. Sowohl was meine armen instabilen Knochen anbetraf als auch was meine Eltern anging. Mein Vater mischte sich zwar selten und auch nur äußerst ungern in die Erziehung meiner Mutter ein, aber wenn es um sowas ging, pflichtete er ihr notgedrungen bei. Sonst würde sie, das wusste ich genau, drei Wochen lang vegetarisch kochen, nur um meinen Vater eins auszuwischen und dann wäre mein Vater so oder so sauer auf mich. Deswegen war die oberste Priorität heute, nicht erwischt zu werden. Weder von Jessica, noch von meiner Mutter oder meinem Vater.

Ich hatte mit Viola einen mehr oder weniger raffinierten Plan ausgetüftelt, damit die ganze Nacht ohne Zwischenfälle vonstatten gehen konnte. Zuerst hatte ich meinen Eltern erzählt, dass ich heute früher ins Bett ging, weil ich morgen die Bewerbung für ein freiwilliges Praktikum schreiben wollte. Das stimmte zumindest halb. Ich wollte irgendwann im nächsten Jahr tatsächlich ein freiwilliges Praktikum antreten, aber an eine Bewerbung hatte ich bis jetzt noch keinen Gedanken verschwendet.

Dann hatte ich mich in mein Kostüm geschmissen, etwas Make-Up aufgelegt und meine Tasche gepackt, in die ich als allererstes meinen Schlüssel gesteckt hatte. Ich wollte zwar eigentlich wieder durch mein Fenster klettern, aber noch einmal würde ich nichts riskieren. Als ich jetzt die steile Leiter herunterkrakseln wollte, war ich mir nicht mehr so sicher, ob das der beste Plan war. Trotzdem schwang ich erst das eine, dann das andere Bein über den Fensterrahmen, stieg auf die oberste Stufe der Leiter und kletterte bis nach unten. Als meine Beine den feuchten Boden berührten, runzelte ich die Stirn.

„Sind das blutige Einschusslöcher?", fragte ich und zeigte auf die kleinen roten Pünktchen auf der Kleidung von Mitch und Viola. Mitch grinste und nickte stolz.

„Siehst aus wie nen umgestülpter Fliegenpilz.", sagte ich. Vielleicht sollte ich keine allzu großen Reden schwingen, meine verschimmelte Zombiehaut war zusammengekleistert aus Lidschatten, Wasserfarben und Bastelkleber, den ich beim Aufräumen in einer meiner Schreibtischschubladen gefunden hatte. Aber wenn Viola Angst gehabt hatte, dass ich sie blamieren würde, hätte sie mal einen Blick auf Mitchs Kunstwerk werfen sollen.

„Ich hab' dir gesagt mach sie größer." Viola schnalzte mit der Zunge und rollte ihre Augen. Mitch sah hinunter auf sein T-Shirt und schmollte. „Du hättest die Kostüme ja auch einfach selbst machen können, aber nein, die Dame hat ja immer zu viel zu tun."

Ich grinste im Stillen über die beiden und räusperte mich erst, als sie sich zu tief in ihrem Versöhnungskuss verloren hatten.

„Wollen wir dann?"

Die beiden nickten und ich humpelte ihnen hinterher zu Mitchs Auto. Mein Bein tat eigentlich kaum mehr weh, aber auftreten konnte ich immer noch nicht ganz.

lavendertea [beendet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt