Kapitel 20

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06.09.2019

Ich habe mir vorgenommen, es Shane heute zu sagen. Ich weiß noch nicht genau, wie ich das anstellen soll, aber ich kann ihn nicht weiter anlügen, nicht nachdem, was ich in den letzten Tagen alles erfahren habe.

Aber ich habe Angst. Shane und ich sind wie Fremde geworden und ich habe seine Stimme schon einige Monate nicht mehr gehört (was nicht zuletzt auch zum Teil seine Schuld war, er hätte genauso gut anrufen können). Trotzdem habe ich Angst, dass er ausrastet oder sowas. Ich würde es ihm nicht verübeln, ich habe es mir bei ziemlich vielen Menschen versaut und er steht auf dieser Liste ganz oben.

Ich wünschte bloß, ich hätte es früher gewusst. Ich hätte einiges anders gemacht. Ich wäre eine bessere Schwester gewesen und eine bessere Tochter.

Was mache ich, wenn er mir nicht verzeiht? Wenn er mich für den Rest meines Lebens hasst?

Mara sagt immer, dass Menschen, die lieben, vergeben können. Einmal. Vielleicht zweimal. Aber ich habe öfter Scheiße gebaut und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben das Bedürfnis, mich zu entschuldigen - wirklich zu entschuldigen. Ich hoffe, dass Shane das zu schätzen weiß. Eine Entschuldigung ist mehr, als jeder andere Mensch von mir bekommen hätte.

Ich will nicht mehr zulassen, dass die Vergangeheit meine Zukunft definiert. Wenn er mir heute nicht verzeiht, versuche ich es eben morgen wieder. Und wenn er mir morgen nicht verzeiht, versuche ich es übermorgen.

Shane ist mein Bruder und irgendwann wird er mir vergeben müssen, ob er will oder nicht.

Ich schluckte. Was sollte das bedeuten?

Sally hatte Angst vor Shanes Reaktion. Vor seiner Reaktion auf was? Und war sie noch dazu gekommen, es Shane zu sagen?

Ich seufzte frustriert. So viele Fragen auf einmal und nichts davon ließ mich klarer auf die Sache blicken.

Nur bei einem Satz stutzte ich.

Wenn er mir heute nicht verzeiht, versuche ich es eben morgen wieder.

Das war am Tag ihres Todes entstanden. Ein ungutes Gefühl kroch meine Kehle hinauf und brachte meinen Bauch zum Rumoren.

Dieser Text klang nicht unbedingt so, als hätte Sally vorgehabt, sich umzubringen. Sie war fest entschlossen, die Sache zwischen ihr und Shane, was auch immer das sein mochte, in Ordnung zu bringen.

Konnte es sein, dass...

Ich verwarf den Gedanken sofort wieder, zu absurd war er.

Sallys Tod konnte kein Unfall gewesen sein...oder? Sie war die beste Schülerin im Jahrgang, sie wusste genau, wie man Tabletten dosieren musste, damit man nicht an einer Überdosis starb. Und außerdem nahm Sally gar keine Tabletten. Wo hatte sie die überhaupt her?

Ich rieb mir die Schläfen und schob das Tagebuch unter meine Matratze.

Ich würde hier nicht weiterkommen. Ich ging jedes Mal einen Schritt zurück, wenn ich etwas Neues herausfand. Hatte Sally sich jetzt umgebracht oder nicht? Selbst die grundlegendste Frage konnte ich nicht klären und jetzt konnte ich nicht einmal mehr Shane zu Rate ziehen.

Was ich jetzt dringend brauchte, war Ablenkung. Zu dumm, dass Sally die einzige Freundin gewesen war, die ich je gehabt hatte. Naja, wenn man Leeroy und Johnny mal außer Acht ließ, die ja eher Shanes Freunde gewesen waren als meine.

Ich griff nach meinem Handy, das noch an der Ladung hing, und gleich drei entgangene Anrufe erschienen auf meinem Handybildschirm.

lavendertea [beendet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt