Kapitel 10

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Die Klingel ertönte und das konnte nur eines bedeuten.

Jessica war zurück.

Ich sah zu Shane und bemerkte, wie er sich anspannte. Seine Hände verkrampften sich unter dem Tisch zu einer Faust und ich hätte am liebsten seine Hand geschnappt und seine Finger vorsichtig wieder geöffnet.

Aber das konnte ich nicht.

„Wann kommt Paul heute nach Hause?", hörte ich Jessicas Stimme gedämpft aus dem Flur. Meine Mutter hatte die Tür geöffnet und noch hörte ich die Bombe leise ticken. Dass sie heute Abend noch explodieren würde, war allerdings so sicher wie der Klimawandel anthropogen war - und das konnten nur Idioten leugnen.

„So gegen sechs. Er bringt aber was vom Chinesen mit, also müssen wir heute nicht kochen.", antwortete meine Mutter ihr.

Selbst ihre Stimme war belegt und klang seltsam fremd aus dem Flur.

Das würde in einer Katastrophe enden und ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte. Shane regte sich nicht und ich fragte mich, ob er zu Eis erfroren war. Vielleicht wäre es besser, wenn er gehen würde.

Doch selbst dann wäre es zu spät gewesen und so geschah das Unvermeidbare: Jessica trudelte gemächlich in das offene Esszimmer, das einen Blick auf den Wohnbereich ermöglichte und hielt plötzlich wie erstarrt inne, als sie Shane erkannte.

Langsam, fast in Zeitlupensequenz, zog sie sich den Schal vom Hals und legte ihn auf der Lehne eines Stuhls ab. Sie strich darüber, als wären ihre Hände Bügeleisen und diese Bewegung hatte etwas an sich, das mir einen kalten Schauer auf den Rücken jagte. Ich hatte das dringende Bedürfnis, etwas näher an Shane heranzurücken oder mich gleich ganz vor ihn zu werfen und die Kugel einzufangen, die Jessica abfeuern könnte, aber ich tat es nicht.

Ich wusste immerhin nicht, was zwischen den beiden vorgefallen war.

Ich rutschte unwohl auf meinem Stuhl hin und her und biss mir auf die Unterlippe, raufte mir durch das dunkle Haar und verknotete letztendlich meine Finger ineinander, während die beiden sich anstarrten und keiner ein Wort sagte.

„Hey Jessica, was hast du heute so gemacht?", fragte ich, um die Stimmung aufzulockern. Ohne den Blick von ihrem Sohn zu nehmen, antwortete sie: „Das ist privat." und ich seufzte.

Wie die Mutter so der Sohn.

Ich wusste nicht einmal, dass es so etwas wie Privatsphäre zwischen unseren Familien gab. Mum und Jessica erzählten sich alles, von der Marke ihrer Tampons bis hin zu dem gefälschten Presseausweis, mit dem sich meine Eltern einmal auf ein Konzert von Stevie Wonder geschlichen hatten.

Deshalb schnappte ich auch verwundert nach Luft. Jessica klang kein Stück herzlich oder mütterlich. So hatte ich sie noch nie gesehen und es versetzte meinem Herzen einen Stich, als Shane davon kein Stück überrascht schien.

War es zwischen den beiden immer so?

Meine Mum stieß zu uns ins Esszimmer und ich warf ihr einen hilfesuchenden Blick zu.

Sie zuckte allerdings überfordert mit den Schultern und machte sogleich auf dem Absatz Kehrt, um das Esszimmer wieder zu verlassen.

Vielen Dank für deine Unterstützung.

„Was machst du hier?", fragte Jessica und brachte somit den Stein ins Rollen.

Ihr Gesicht war starr, ihre Haltung noch immer aufrecht und sogar ein wenig geschäftlich, wie sie den Rücken durchgedrückt hatte und ihre Hände ruhig auf der Stuhllehne ruhten. Ihre Frisur saß perfekt, der Lippenstift sah aus wie frisch nachgezogen und der Rock hatte noch immer keine Falte.

lavendertea [beendet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt