Kapitel 39

93 17 20
                                    

Ich bekam keine Luft mehr. Das Atmen, das, was mich am Leben hielt, die natürlichste Sache der Welt, bereitete mir plötzlich die größten Schwierigkeiten.

Es war die meiste Zeit so selbstverständlich, dass man nicht einmal mehr darüber nachdachte, was passieren würde, wenn man es nicht mehr konnte.

Man erstickte. Ich erstickte.

Das Licht war grell und es war so still, dass ich das Rauschen der Leuchtstoffröhren an der Decke über mir hörte.

Es war ein Geräusch, das man im Alltag, beim Duschen oder Zähneputzen, kaum hörte und ein Geräusch, das jetzt in meinen Ohren schmerzte, jetzt, wo es so still, so totenstill war.

Ich trommelte gegen die massive Holztür, schlug mit den Fäusten dagegen und rief, rief nach Jessica, nach Shane, mach meiner Mutter. Ich wollte - ich musste - hier raus.

„Bitte!", bettelte ich, sank vor der Tür auf die Knie und flehte darum, erhört zu werden. Von irgendwem. Doch niemand kam.

Die Panik kam mit einem Brennen und Lodern in jedem Teil meines Körpers. Meine Finger zitterten, mein Herz pulsierte und eine Hitzewelle übermannte mich mit einer unsäglichen Kraft, die mich auf den Boden warf.

Auf wackelnden Knien kämpfte ich mich durch die Unordnung bis hin zu den Medikamenten. Vielleicht fand ich hier ja irgendetwas, das meine Panik lindern würde - wenn auch nur für den Moment.

Ich wühlte mich durch die Zettel, leere Dosen und Handtücher, die von einem Stapel gekippt waren, fand aber nur Augentropfen, Anti-Falten-Cremes und Kopfschmerztabletten. Mit einem verzweifelten Keuchen schob ich die Zettel und Handtücher beiseite, schaufelte weitere leere oder halb gefüllte Dosen frei und griff nach einer mit Beruhigungsmitteln.

Ich musste wie eine Drogensüchtige auf Entzug wirken, wenn ich mich so panisch durch Medikamente wühlte.

Ich drehte die Dose um, um nach dem Wirkstoff zu suchen und schluckte, als groß Diazepam auf dem Etikett auf der Rückseite stand.

Diazepam.

Schon wieder dieses Medikament.

Ich öffnete die Dose und sah hinein. Sie war fast noch voll. Ich nahm eine Tablette heraus, legte sie auf meine Zunge und spülte sie mit Wasser aus dem Wasserhahn herunter. Das Schlucken fiel mir schwer, es fühlte sich an, als würde etwas quer in meiner Luftröhre sitzen.

Ich schloss die Augen und lehnte mich gegen die Wand.

Obwohl ich mich auf meinen Atem konzentrierte, drängte sich mir immer wieder die Frage auf, warum Jessica dieses Diazepam hatte und ob ich mit meiner Vermutung vielleicht richtig lag.

Hatte sie Sally getötet?

Was hätte sie davon? Sally war ihre Lieblingstochter, ihre Prinzessin, ihr leuchtender Stern.

Ich hatte geglaubt, sie würde bei der Beerdigung jede Sekunde zusammenbrechen, würde an ihrer Trauer zu Grunde gehen.

Ich atmete durch und vergrub meine krampfenden Hände in den Dingen, die um mich herumlagen. Links erwischte ich ein frisch gewaschenes Handtuch, das nach dem Weichspüler roch, den Sally immer für ihre Wäsche benutzt hatte. Rechts in einen Stapel Zettel.

Obwohl die Situation mich überforderte, ein Chaos aus Gefühlen und Gedanken und Ängsten durch meinen Körper wirbelte und nur verwirrte Einöde hinterließ, warf ich einen Blick auf die Unterlagen, die ich gerade zerknitterte.

Ich schluckte und versuchte die Panik aus meinem Verstand zu verbannen. Ich durfte ihr keinen Einhalt in mein Herz gewähren, denn war sie einmal in mir, nahm sie mich vollkommen und restlos ein.

lavendertea [beendet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt