Kapitel 2

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Minuten des Schweigens zogen an uns vorbei und allmählich trockneten meine Haare, mein Zittern verebbte und das beklemmende Drücken in meinem Brustkorb wich langsam aber sicher dem nüchternen Gefühl der Trauer.

Zum ersten Mal seit Tagen ließ ich den Schmerz zu. Während die Tränen stumm meine Wangen herunter rannen, sprach Shane kein einziges Wort.

Er war mit seinen Gedanken woanders.

Irgendwann erblickte ich meine Mutter, die sich ihre Tasche über den Kopf hielt und bei Jessica untergehakt war. Der Regen fiel in Sturzbächen auf sie nieder und sie eilten zu unserem Auto, das unweit entfernt von Shanes Wagen stand. Mein Vater trottete ihnen hinterher und schien nach etwas zu suchen.

Er suchte nach mir.

„Ich sollte jetzt zu meinen Eltern.", sagte ich. Shane zuckte leicht zusammen, so als hätte er einen schlechten Traum gehabt und ich hätte ihn vollkommen unvorbereitet herausgerissen, aber dann nickte er noch immer in Gedanken versunken.

Ich stieß die Tür des schwarzen Chevrolet Trucks auf und begann augenblicklich wieder zu zittern.

„Danke.", flüsterte ich zum Abschied, unsicher, ob er mir überhaupt zugehört hatte.

Im Eilschritt zwängte ich mich zwischen den anderen parkenden Autos hindurch, um zu meinen Eltern zu gelangen.

Dad erblickte mich als erstes und ein erleichtertes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Gott sei dank, da bist du ja. Schnell in den Wagen, du holst dir noch den-"

Er beendete den Satz nicht.

Schuldbewusst senkte er den Kopf und stieg schnell auf den Fahrersitz, sodass sein Gesicht vor meinen Augen verschwand.

Mum saß bereits neben Dad und Jessica auf der Rückbank, genau wie wir auch hergefahren waren. Doch dieses Mal blickte ich zurück und suchte den Parkplatz nach dem schwarzen Chevrolet ab. Er war weg.

Geknickt nahm ich neben Jessica Platz, die abwesend aus dem Fenster starrte. In letzter Zeit begegnete ich diesen leeren Blicken öfter. Wir alle waren auf der Suche nach Antworten auf unsere Fragen, aber es gab keine Antworten. Sie wurden von keinem  neunmalklugen Professor in irgendeiner Vorlesung vorgetragen, man fand sie nicht in Büchern und garantiert standen sie auch nicht in den Sternen geschrieben.

Der einzige Mensch, der uns eine Antwort hätte geben können, war tot.

Seufzend lehnte ich meinen Kopf an die Fensterscheibe. Das Radio lief und lenkte mich von meinen wirren Gedanken ab und als Dad leise den Text zu einem Beatlessong mitsummte, kehrte für einen Moment so etwas wie Ruhe in mir ein.

„Hast du in den letzten Tagen eigentlich etwas von Shane gehört?", traute ich mich Jessica zu fragen.

Dad schaute mich durch den Rückspiegel an und ein seltsames Gefühl keimte in mir auf. Geradeso, als wäre diese Frage unangebracht.

Jessica wirkte nicht minder überrascht als mein Vater, denn sie blinzelte verwirrt und schien zu überlegen, wann sie das letzte Mal mit ihrem Sohn gesprochen hatte.

Schließlich sagte sie nur: „Nein, leider nicht. Aber jeder geht anders mit der Trauer um und Shane war schon immer jemand, der gern für sich allein war." Ein zittriges Lächeln brachte sie noch auf, bevor sie sich wieder abwandte und erneut diese bedrückende Stille einkehrte. Da nützte selbst das Autoradio nichts mehr.

Dad parkte in unserer Einfahrt, vor der sich ein rotes Ziegelsteinhaus erstreckte. Wilder Efeu kletterte die Vorderseite unserer Hauswand nach oben und klammerte sich mit allem, was er hatte, an die Regenrinne. Die weißen Fensterrahmen hoben sich von dem roten Gestein ab und rechts und links von unserem Haus standen die gleichen Gebäude mit dem gleichen Ziegelgestein und den gleichen weißen Fenstern.

lavendertea [beendet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt