Kapitel 37

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„Shane?", flüsterte ich in die Dunkelheit meines Zimmers. Ich drehte mich auf die andere Seite, um zu sehen, ob er schon schlief, doch es war zu dunkel, um etwas zu erkennen.

„Schläfst du?"

Shane atmete laut aus und brummte dann irgendetwas Unverständliches in eins meiner Kopfkissen.

„Jetzt nicht mehr.", fügte er dann deutlicher hinzu. „Was ist los?"

Ich atmete tief durch und biss mir auf die Lippe. Ich traute mich kaum, mit diesem Thema zu beginnen. Ich hatte Angst, er würde wütend werden oder noch schlimmer - traurig. Etwas hatte er an sich, das mich dazu brachte, ihn um alles in der Welt von Unheil und Schmerz abschirmen zu wollen.

Ich konnte ihn aber auch nicht anschweigen. Wichtige Dinge zu verschweigen war wie Lügen.

„Während der Feiertage habe ich beim Ausmisten einen kleinen Zettel in Sallys Tagebuch gefunden."

Shanes Atem war laut und klar. Meine Augen hatten sich allmählich an das dunkle Licht gewöhnt und jetzt sah ich Shane, wie er neben mir lag und an die Decke starrte. Seine Hand lag nur einige Zentimeter entfernt von mir und wenn ich meinen Finger heben würde, würden wir uns berühren. Doch ich traute mich nicht.

Das zwischen Shane und mir war wie ein schöner Traum. Es gab einzelne Momente des Muts, in denen meine Lippen auf seinen lagen und wir vergaßen, wer wir eigentlich waren, aber das richtige Leben ließ nicht lange auf sich warten. Ein Augenschlag und die Realität würde uns mit all ihrer Härte, all ihren Problemen und Zweifeln einholen. Verlor ich mich zu sehr im Traum, würde ich irgendwann den Aufprall in der Wirklichkeit nicht überleben.

„Auf dem Zettel stand die Adresse von deinem Vater, Shane.", sagte ich. Meine Stimme zitterte beim Sprechen, es hörte sich an, als würde jemand gegen meinen Kehlkopf trommeln und ich räusperte mich, um irgendwie diese gespenstische Stille zu durchbrechen.

„Und?", antwortete er. Seine Stimme klang rau, aber ich konnte trotzdem diesen kalten Unterton hören, der mich schon oft genug getroffen hatte.

„Und ich bin hingefahren.", stieß ich schließlich aus. Ich beobachtete Shane genau, während ich ihm die Wahrheit gestand. Shane gab sein Bestes, sich keine Emotionen anmerken zu lassen, sein Mund war zu einem schmalen Strich verzogen und er blinzelte nicht einmal. Doch seine Hand verkrampfte sich und ich spürte über den kleinen Abstand zwischen unseren Händen, wie er seine Finger zu einer Faust schloss.

Ohne darüber nachzudenken legte ich meine Hand auf seine.

„Es ist okay, wütend zu sein. Er war für dich kein guter Vater, aber er hatte seine Gründe.", erklärte ich.

„Seine Gründe?", spottete Shane, zog seine Hand weg und setzte sich in meinem Bett auf.

„Seine Gründe kann er sich sonst wohin stecken. Ich hätte Dad gebraucht, als Jessica zu keinem Elternabend aufgetaucht ist, als ich meine Collegebewerbung geschrieben habe und mir niemand gesagt hat, wie man sowas macht. Er hätte da sein müssen, aber das war er nicht. Jetzt brauche ich ihn auch nicht mehr."

Es tat mir so unglaublich weh, Shane so verletzt zu sehen. Sein Herz war gebrochen, bevor er überhaupt gelernt hatte, wie man liebte.

„Vielleicht-", begann ich, doch Shane unterbrach mich mit einem „Nein".

„Es reicht, Mara. Hör auf, immer alles in Ordnung bringen zu wollen, du wärst enttäuscht, wie wenig kaputte Dinge sich reparieren lassen."

Ich schluckte alle Worte, die meine Kehle hochkrabbelten, wieder herunter. Ich war noch gar nicht bis zum wichtigsten Punkt gekommen, nämlich, dass Sally nur Shanes Halbschwester war. Wenn ich ihm das jetzt auch noch an den Kopf knallen würde, wusste ich nicht, ob er hier bei mir blieb. Und da er morgen zurück nach Brighton fahren wollte, wollte ich zumindest noch die letzten Stunden mit ihm haben.

lavendertea [beendet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt