Kapitel 31

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Durch das Küchenfenster sah ich, wie der Schnee leise auf die Müllsäcke rieselte, die immer noch vor Jessicas Haustür lagen.

„Ich sollte mit ihr reden.", sagte meine Mutter, schüttelte den Kopf und schenkte sich eine neue Tasse Tee ein. Heißer Dampf stieg aus der Tasse empor und hüllte meine Gedanken in ein Nebelkostüm ein. Die letzten Tage verwirrten mich. Warum handelte plötzlich jeder so, wie ich es am wenigsten von ihm erwartet hatte?

„Was gibt es da zu reden, Mum? Sie hat mir eine gescheuert!", antwortete ich verständnislos.

Meine Mutter schob nachdenklich die Augenbrauen zusammen und strich mit ihrem Fingernagel über ihre Tasse. Das kratzende Geräusch wie von Metall auf Schiefer bereitete mir eine schaurige Gänsehaut, bei der sich alle meine Armhaare aufstellten.

„Das hättest du nicht sagen sollen, Mara.", sagte meine Mutter dann. „Dass Salana sich ihretwegen umgebracht hat. Das geht einfach zu weit."

Ich stöhnte und ließ meinen Kopf auf meine auf dem Küchentisch verschränkten Arme fallen. Ich wusste, dass meine Zunge schneller gewesen war als mein Verstand und dass die Worte wirklich verletzend gewesen sein mussten, aber nichts davon rechtfertigte eine Ohrfeige, die jetzt einen roten Abdruck auf meinem Gesicht hinterlassen hatte.

War es nicht das, was meine Mutter mir von kleinauf gepredigt hatte? Dass Gewalt keine Lösung war?

„Ich weiß ja, dass das nicht richtig war.", murmelte ich. „Aber nach all den Dingen, die in den letzten Wochen zusammengekommen sind, hat sich so eine enorme Wut in mir angestaut, dass ich vorhin einfach explodiert bin."

Ich griff nach der Teekanne, schenkte mir ein weiteres Mal nach und zog mir die Decke wieder über die Schultern, die beim Einschenken heruntergerutscht war. Meine Arme waren immer noch eisig kalt, mein ganzer Körper zitterte, außer die Wange, die Bekanntschaft mit Jessicas Hand gemacht hatte. Die glühte wie heiße Kohlen und pochte unangenehm.

Ich bereute, dass ich das mit Sallys Tod gesagt hatte, zumal jetzt feststand, dass Sally getötet worden war. Aber der Rest war vollkommen angebracht gewesen. Jessica konnte nicht immer dieses theatralische Schmierentheater abziehen und dann erwarten, dass jeder das so hinnahm und sie verhätschelte.

Jessica war nicht der Mittelpunkt des Universums.

„Mara, ich weiß, dass das keine leichte Zeit für dich ist und dass du die Sachen lieber in dich reinfrisst - das hast du übrigens von mir.", sagte sie, ein kleines Lächeln zupfte an ihrem Mundwinkel, als sie mir über das Haar strich und meinen Kopf zu sich heranzog.

„Aber wenn du mir sagst, was dich so wütend gemacht hat, dann kann ich dir vielleicht helfen."

Seufzend lehnte ich meinen Kopf gegen die Schulter meiner Mutter, wie ich es als Kind schon immer getan hatte, wenn ich traurig gewesen war. Aber ich war kein Kind mehr und dieses Mal konnte sie mir nicht helfen. Sie konnte nicht dafür sorgen, dass Sally wieder zurück von den Toten kam, sie konnte Shane nicht unschuldig machen und am wenigsten konnte sie Jessicas Fehlverhalten wieder richten. Es war auch nicht die Aufgabe meiner Mutter, gerade zu rücken, was Jessica aus der Ordnung gebracht hatte.

Ein schrecklicher Gedanke durchkreuzte so blitzschnell meinen Verstand, dass mein Blitzableiter gar keine Chance gegen diesen Gedanken hatte.

Was, wenn meine Mutter von all den Dingen, die Jessica getan hatte, Bescheid wusste? Wäre sie damit einverstanden gewesen? Hätte sie weiterhin mit Jessica befreundet bleiben können, wenn sie wusste, dass Jessica ihren schwerbehinderten Mann betrogen und ihren eigenen Sohn von sich gestoßen hatte?

lavendertea [beendet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt