Kapitel 38

85 18 15
                                    

Noch zwei Mal hatte ich Shane an diesem Abend angerufen, doch sein Handy war und blieb ausgeschaltet.

Ich überlegte, ob ich ihn vielleicht mit irgendetwas verärgert hatte, irgendeinem dummen Spruch oder einer Sache, die mir noch gar nicht aufgefallen war, aber wir hatten ja nicht mehr gesprochen, seit er gegangen war.

Vielleicht hatte er irgendwie von Jessica erfahren, dass Sally nur seine Halbschwester gewesen war und dann eins und eins zusammengezählt? Ich hatte ihm immerhin schon wieder etwas verschwiegen. Andererseits wollte er mich ja überhaupt nicht ausreden lassen und er konnte mir kaum Vorwürfe machen, wenn er mich selbst unterbrochen hatte.

Mit einem Seufzen sah ich durch sein Fenster in sein leerstehendes Zimmer, das jetzt, im Licht des anstehenden Tages, etwas seltsam Unheimliches an sich hatte. Ich hatte den Blick schon abgewandt, da fiel mir im Augenwinkel eine Kiste auf, die auf der Fensterbank, ein wenig versteckt hinter dem schiefen Rollo, stand.

Hatte er etwa nicht alles mitgenommen? Vielleicht hatte nicht alles auf die Ladefläche seines Transporters gepasst und er kam nochmal nach Wakefield zurück? Vielleicht sollte es eine Überraschung werden?

Ich spürte die Hoffnung in mir aufkeimen und hätte mich am liebsten selbst gescholten für solche Gedanken. Das passierte, wenn man zu viel von Menschen erwartete. Man wurde enttäuscht, obwohl sie oft nicht die geringste Ahnung von den geheimen Hoffnungen und Wünschen der anderen hatten.

Ich schlich wie gestern die Treppen nach unten, um niemanden zu wecken, taumelte noch schlaftrunken in die Küche und erschrak, als ich meine Mutter an der Kaffeemaschine stehen sah.

„Mein Gott!", fluchte ich und presste meine Hand auf mein pochendes Herz, das ein Beben in meiner Brust verursachte.

„Musst du mir so einen Schrecken einjagen?", murrte ich missmutig, schaltete den Wasserkocher an und packte einen Holundertee aus seiner Verpackung. Ich trank zum Frühstück normalerweise nie Tee, sondern immer nur Kaffee, doch heute war mir nicht nach Kaffee zumute.

„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?", fragte meine Mutter, setzte sich neben mich an den Tisch und ließ ihre mütterliche Scan-Apparatur (ihre Augen) über mich wandern.

„Keine.", brummte ich.

Das stimmte nicht ganz. Shane war die Laus, aber das würde ich meiner Mutter ja nicht unter die Nase reiben.

„Ach Mara.", seufzte sie.

„Ich dachte, du erzählst es mir von dir aus. Aber Jess hatte wohl recht."

„Recht womit?", fuhr ich ihr dazwischen.

Ich wollte gar nicht wissen, welchen Floh sie meiner Mutter jetzt schon wieder ins Ohr gesetzt hatte.

Mara ist verantwortungslos, Mara kennt keine Manieren, Mara macht dieses falsch und jenes falsch. Ihre Stimme hatte in meinem Kopf ein prägendes Trauma hinterlassen, das sich vermutlich nie wieder heilen ließ.

Doch was sie wirklich gesagt hatte, ließ mich mit offenem Mund zurück.

„Ich weiß von deinem Ausflug zum Polizeirevier und auch, dass du Jessica angerufen hast, weil du dachtest, ich würde dann nichts davon erfahren. Aber du solltest doch eigentlich wissen, dass Jess mir sowas erzählt. Mara, ich mache mir langsam wirklich Sorgen um dich."

Meine Kinnlade klappte auf und schloss sich nicht wieder. Das hatte sie meiner Mutter erzählt? Und meine Mutter glaubte ihr auch noch?

„Sie lügt, Mum!", rief ich, schüttelte den Kopf und stand vom Tisch auf. Meine Beine wollten gegen irgendetwas treten, irgendetwas Hartes, das nicht zu schnell kaputt ging und gegen irgendetwas, das zumindest im Ansatz Ähnlichkeiten mit Jessica hatte.

lavendertea [beendet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt