4. Die Wahrheit

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,,Azriel?"
Der Wind trug mein gehauchtes Wort zu ihm, flüsterte es Az ins Ohr. Sein Kopf fuhr herum und er fluchte, als er mich erblickte.
,,Mareile!"
Ich blickte ihn an und lenkte das Licht wieder auf mich.
,,Weißt du, du bist die einzige, die sich an mich heranschleichen kann.", sagte er mit seiner rauen Stimme. Ich lächelte leicht. Es war nicht leicht gewesen, ihn zu finden. Zwar war das Quartier des Hofes der Nacht wirklich im Smaragdabteil, aber eben jenes umfasste fast ein gesamtes Herrenhaus. Also hatte ich mich hinter Türen gestellt, hatte gelauscht und gewartet, bis ich schließlich das kleinste, unscheinbarste Zimmer wahrnahm. Unter der Türschwelle waberten feine Schattenlinien, das unverkennbare Merkmal Azriels.
Und nun stand ich hier und sah den Schattensänger an. Der Wahrsager glitzerte bedrohlich hinter ihm, er müsste bloß seinen Arm ausstrecken, um ihn zu berühren. Ich zwang mich, einen Schritt näher zu treten. Wenn ich ihm kein Vertrauen entgegenbrachte, wie sollte ich dann jemals auf das Seine hoffen?
Azriel blieb entspannt stehen, fixierte mich aber mit seinen dunklen Augen.
,,Was tust du hier? Stehst du so hoch in Tamlins Gunst, dass er dich zu einer Versammlung der High Lords einläd?"
Seine Verachtung gegen meinen High Lord schlug mir bitter ins Gesicht. Ich hatte mir überlegt, was ich ihm sagen sollte, aber nichts erschien mir im Moment richtig.
,,Az, ich brauche deine Hilfe.", fing ich deshalb ruhig an.
Wieso sollte ich auch herum reden? Ich konnte genauso gut gleich zum Thema kommen.
,,Du weißt, weshalb wir hier sind. Rhys hat eine Frau gesehen, die aus dem Himmel fiel. Niemand weiß, wo sie herkommt, niemand kennt sie."
Wartend nickte Azriel.
,,Und?", fragte er mit der ihm zum ständigen Begleiter gewordenen Ruhe, die sonst niemand, den ich kannte, in so vielen Situationen behalten konnte.
,,Tamlin verdächtigt mich, sie geholt zu haben."
Das einzige Zeichen der Überraschung seitens Azriels war das kurze Stillstehen der Schatten.
,,Wieso?", fragte er, den selben kalten Ton anschlagend, den er sich auch bei einem Verhör zu Eigen machte.
,,Du weißt, ich kann das Licht krümmen, nicht wahr?"
Er schwieg einen Moment.
,,Aber das ist nicht deine einzige Kraft.", stellte er fest.
Jetzt oder nie.
Ich schüttelte meinen Kopf. Das hier war nicht anährend so leicht, wie ich gedacht hatte, aber besser, Az erfuhr es von mir, anstatt auf der Versammlung mit den anderen zusammen. Also nahm ich meine Kraft zusammen, blickte ihm fest in die dunkeln, kühlen Augen und sagte, was von nun an alles verändern würde.
,,Ich bin eine Weltenbeugerin.", sagte ich leise, da dieses Wort auch flüsternd eine unumgehbare Präsens im Raum einnahm.
,,Eine Weltenbeugerin?", fragte Az ebenso leise. 
Ich nickte und senkte meinen Blick. Ich ertrug die Kälte nicht, die leichte Verletztheit in seinem Blick. Azriel schwieg lang, ich hörte nicht einmal seinen Atem.
,,Du bist nicht aus Prythian, oder?", fragte er mich mit kalter Stimme.
,,Nein."
Und dann stellte er mir die Frage, die ich seit nun 56 Jahren nicht mehr beantworten musste.
,,Woher kommst du, Mareile?"
,,Aus einer anderen Welt. Ich weiß nicht, wie ihr genauer Name war, niemand benutzte ihn je. Wahrscheinlich war sie ähnlich wie Amrens Welt, nicht vergleichbar mit Prythian. Niemand besaß eine solche Macht wie ich, niemand reichte an mich heran. Und ich...
Ich konnte damit nicht umgehen.", ich schluckte hart. ,,Ich erinnere mich nicht genau, wie ich hierher kam, aber auf einmal war ich in Prythian an und konnte nicht zurück, war hier gefangen. Meine Macht senkte sich auf den Bruchteil ihrer früheren Größe und ich brauchte Hilfe. Tamlin gab sie mir. Und seitdem stehe ich in seiner Schuld."
Das war gelogen.
Ich wusste genau, wie ich nach Prythian gekommen war, aber noch war ich nicht bereit, es wirklich auszusprechen. Vielleicht würde ich es morgen können, wenn ich eine Nacht darüber schlief. Ich hob den Blick und sah in Azriels ausdruckslose Augen.
,,Ich glaube, Rhys muss mir den Tite als Meisterspion wieder aberkennen. Anscheinend bin ich nicht ganz so talentiert, wie er dachte."
,,Du hattest keine Ahnung?", fragte ich.
,,Du bist eine gute Schauspielerin, Mareile.", erwiderte er bloß schneidend.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Verteidigen konnte ich mich nicht, denn er hatte Recht mit dem, was er sagte. Ich hatte alle getäuscht und hoffte nun auf ihre Hilfe?
Azriel seufzte und ließ sich auf einen Sessel sinken.
,,Und du wärst in der Lage, jemanden hierherzu holen?", fragte er mich.
Ich zögerte.
Früher war es kein Problem für mich, in andere Welten zu greifen und jemanden herauszureißen, aber heute?
,,Nein, ich denke, ich wäre es nicht. Ich habe so viel von meiner Macht eingebüßt... Wahrscheinlich ist mir außer der Lichtkrümmung nicht viel geblieben."
,,Wenn man von Unsterblichkeit, Schönheit, Schnelligkeit und gutem Schauspieltalent einmal absieht.", sagte Az mit einem schiefen Grinsen.
Ich lächelte ihn an.
,,Du weißt, dass ich Rhys davon erzählen muss, nicht wahr?"
Das wäre fatal.
Nicht nur die anderen High Lords würden sich betrogen fühlen, Tamlin würde noch etwas an Rhysand verlieren. Und ich wusste  nicht, ob er es aushielt, überhaupt noch etwas von sich herzugeben, und sei es bloß ein Geheimnis. Ich schüttelte vehement den Kopf und sah ihn flehend an.
,,Az, bitte. Morgen ist früh genug. Und ich kenne niemanden, der einen stählerneren Geist als du hat. Bitte, sag ihm nichts."
,,Er ist mein High Lord. Ich werde nichts vor ihm verheimlichen."
,,Azriel, bitte...", meine Stimme klang erstickt.
Azriel schüttelte seinen Kopf, aber ich sah etas in seinem Blick, dass mich nicht aufhören ließ.
,,Az, Tamlin würde das nicht verkraften. Ich habe eine Freundin am Frühlingshof, Diara. Was, denkst du, würde mit ihr passieren, sollte Tamlin herausfinden, dass ich es schon jemandem erzählt habe? Ich mache mir Sorgen um sie."
Azriel zögerte.
,,Az...", hauchte ich.
Ich hatte es ihm erzählen müssen. Er war mein Freund, das wusste ich. Hätte er es offiziell auf der Versammlung erfahren, ich hätte nicht gewusst, ob er mich überhaupt noch angesehen hätte. Und ich mochte ihn sehr. In meiner Zeit am Frühlingshof hatte er mich besucht, hatte mir oft geholfen und mir die Wohnung in Velaris besorgt. Aber ich verstand, weshalb er  nicht für mich lügen würde. Schon vorher hatte ich damit gerechnet, dass Rhysand es erfahren würde. Er hatte mit seinem High Lord gekäft, ar mit ihm aufgewachsen...
Er kannte mich seit etwas mehr als 5 Jahren, wie konnte ich da erwarten, dass er seine Prinzipien verriet und seine Treue brach?
,,Ich verstehe, wenn du das nicht tun kannst...", flüsterte ich und senkte den Blick. Langsam stand ich auf und zog meine Tunika glatt. Ich machte gerade einen Schritt zur Tür, als Azriel sich räusperte.
,,Ich verspreche dir nichts, aber ich versuche, ihm nichts zu sagen. Er kennt dich nicht so, wie ich dich kenne. Aber tust du es morgen nicht, dann werde ich ihn informieren."
Er sah mich an, starrte mir mit seinem flammenden Blick ein Loch in mein Herz.
,,Pass auf dich auf, Mareile. Morgen wird kein leichter Tag werden."
Meine Kehle wurde trocken und ich nickte. Azriel riskierte viel für mich. Ich schluckte meine Tränen herunter und tat etwas, das ich vorher noch nie getan hatte.
Ich umarmte den Schattensänger.
Er verkrampfte sich und blieb steif sitzen, aber nach einer Weile strich er mir mit einer federleichten Berührung sanft über den Rücken. Ich löste mich von ihm und sah in warm an.
,,Danke, Az. Wirklich, ich danke dir."
,,Geh jetzt. Dann bekommst du vielleicht noch etwas Schlaf."
Ich nickte und ging in Richtung Tür. Bevor ich sie schloss, blickte ich zurück in das Zimmer. Azriel war mit den Schatten verschmolzen, einzig der Knauf des Wahrsagers hob sich ein wenig von der dunklen Silhouette ab. Ohne ein weiteres Wort schloss ich die Tür.
Es gab nichts, das ich noch hätte sagen können.

MareileWo Geschichten leben. Entdecke jetzt