18. Gib mir deine Macht

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Niemand bewegte sich, niemand schien zu atmen.
Alles war still.
Hallo, Fremde.
Eine schnurrende Stimme erschien in meinem Kopf, wisperte mir zu. Ich sah, wie Hasar zusammenzuckte.
Ich rieche deine Macht. Unwirklich und unglaublich groß.
Mein Herzschlag beschleunigte sich, ich griff nach Azriels Hand und umklammerte sie fest.
Gib sie mir! Zischte das Wesen und ich keuchte auf. Die Dunkelheit waberte weiter in den Raum, zielgerichtet kroch sie auf mich zu. Das Wesen zeigte sich nicht, blieb unsichtbar.
Eine Sekunde der Schwäche überkam mich, ich wollte weg, fliehen, rennen. Ich hatte Angst.
Mein Atem kam flach über meine Lippen, der Raum schien sich um mich herum zu drehen. Azriel hielt meine Hand fest und sicher, meinen Geist im hier und jetzt. Ich besann mich.
Meine Macht summte als ich das letzte verbliebene Licht aus dem Fenster brach und mit einem Keuchen auf die Dunkelheit schleuderte.
Fauchend wichen die Schwaden zurück, zogen sich ein wie die Krallen einer Katze. Damit riss ich die anderen aus ihrer Schockstarre. Lysandra verwandelte sich leise in einen Geisterleoparden, Aedion baute sich neben ihr auf, bereit, sie mit seinem Leben zu verteidigen. Unauffällig schlich Mor zu Hasar, deckte sie hinter sich und schob sie und Yrene zu Cassian. Rhysand versuchte, Bryaxis mit seiner Dunkelheit zu vertreiben, aber ich sah mit Schrecken, wie die Schwaden wuchsen.
,,Hör auf damit!", schrie Dorian. ,,Du nährst es!"
Ein amüsiertes Glucksen ertönte in meinem Kopf, als das Wesen schließlich Gestalt annahm. Verzerrt und grausam wuchs es im Raum zu einer wahrhaft fürchterlichen Kreatur. Cassian und Mor stolperten zurück, prallten gegen Manon, die mit geweiteten Augen auf das Monster starrte.
Wie Recht der König hat. Er ist auch mächtig...
Entzückt seufzte es.
Euer beider Macht vereint... Gebt sie mir!
Ruckartig zischten die Schwaden auf mich zu, ich schrie erstickt auf und duckte mich, riss Azriel mit mir zu Boden, als die Schwaden über mich fegten. Schützend wollte sich der Schattensänger über mich legen, aber ich rappelte mich wieder auf und sammelte das Licht. Ich schleuderte es auf Bryaxis, zeitgleich mit einer siedend heißen Feuerzunge.
Die Königin stand in der Tür, die Hand ausgestreckt, die Flammen auf das Monster gelenkt. Ihre langen goldenen Haare fielen offen über ihren Rücken, glichen den Flammen in ihrer Hand. Mit aufgerissenen Augen und schwerem Atem hielt sie den Flammenspeer. Fenrys knurrte als weißer Wolf neben der Königin, Rowan hielt sie an der Hüfte fest, gab ihr Gleichgewicht... und Macht. Ich spürte, wie seine Energie in seine Gefährtin floss, wie er sie stärkte.
Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte Bryaxis, umgeben von Licht und Flammen. Dann begann sich der schwarze Mund langsam zu einem Lächeln zu verziehen.
Ihr denkt, ihr könnt mich so aufhalten?
Belustigt schnaubte es.
Einen Gedanken später lagen Aelin und ich auf dem Boden, erdrückt von schwarzen Tentakeln, die sich wie Steine auf unsere Körper drückten. Fenrys brüllte auf, als einer der Tentakel sein Bein erwischte.
Ich keuchte, rang nach Atem. Luft, Ich brauchte Luft...
Panisch griff ich nach dem schwarzen Tentakel, aber meine Finger fuhren einfach durch es hindurch, als wäre es Rauch.
Mein Herz raste, ich trat mit meinen Beinen gegen unsichtbare Barrieren, versuchte, mich zu befreien...
,,Genug!"
Die High Lady des Hofes der Nacht trat hintere Rhysand hervor.
Du hast mir Licht versprochen. Ich danke dir, dass du mir gleich so viel davon gibst.
Schnurrend strichen die Tentakel über meinen Körper. Das Gewicht verschwand, nicht vollständig, aber so weit, dass ich nach Luft schnappen konnte.
,,Verschwinde von hier!", zischte Feyre, aber Bryaxis lachte bloß.
Das ist der Dank für meine Hilfe während des Krieges?
Es fuhr mit schwarzen Klauen nach Feyre, griff Rhysands Seelengefährtin offen an. Aber sie wäre keine High Lady, könnte sie sich dagegen nicht wehren. Ein Schild um sie herum ließ seine Klauen zerbersten als wären sie aus Glas.
Mit einem Lächeln trat sie einen Schritt auf Bryaxis zu.
,,Greifst du erneut jemanden in meinem Hof an, werde ich dich vernichten."
Dazu hast du keine Macht!, zischte es wütend, knurrte und bäumte sich auf.
Und in diesem Augenblick entfesselte Feyre all ihre Macht. Sie schleuderte das Licht des Morgenhofes, das Feuer des Herbsthofes, das Eis des Winterhofes auf das Wesen. Bryaxis fauchte.
Mit bleichem Gesicht beobachtete ich, wie die High Lady die Schattenklauen abwehrte, die nach ihr griffen. Ihr Seelengefährte zertrümmerte die Klauen mit nur einem Gedanken, hielt seine Macht aber tief in sich vergraben.
Dorian maß Feyres Machtblitze mit scharfem Blick, analysierte selbst im Kampfgeschehen genau, was passierte.
,,Wasser...", murmelte er. Ich verstand.
Die Eisblitze trafen Bryaxis am stärksten, schwächten ihn am meisten.
,,Wasser!", schrie Manon Feyre zu und fuhr ihre Klauen aus. Beinahe hätte ich gelacht. Als ob das etwas nützen würde.
Für einen Moment schien Feyre verwirrt, als ob sie das Element des Sommerhofes vollkommen vergessen hätte. Und dann formte sie Wölfe aus Wasser.
Wie Wellen sprangen sie auf Bryaxis zu, rissen an den Schatten, bissen in die Tentakel...
Erstaunt sah ich, dass sie tatsächlich bleibende Schäden hinterließen. Die Schwaden über meinem Brustkorb verloren an Intensität, das schwarz wurde blasser, bis es schließlich verschwand. Keuchend setzte ich mich auf, rang nach Atem, während die High Lady mit schweißnasser Stirn unabläßig Wölfe aus Wasser auf das Monster schickte.
Fauchend wich Bryaxis zurück, die Schwaden krochen zur Tür, verschwanden dahinter und lösten sich auf. Ein wütendes Knurren entwich dem bereits zerfallenden Maul des Monsters.
Du kannst mich nicht besiegen, nur aufhalten. Ihre Macht gehört mir!
Ein Windstoß von Rowan beförderte das Monster nach draußen, ließ die Schwaden verwehen.
Einen Moment lang herrschte Stille.
Ein Keuchen brachte uns alle zurück in die Wirklichkeit. Feyre lehnte sich mit zitternden Beinen gegen Rhysand, der sie voller Sorge ansah. Sie schwitzte, rang nach Luft und konnte ihre Augen kaum aufhalten. Yrene eilte zu ihr und betrachtete sie. Ihre Hand legte sie auf ihren Bauch, schloss die Augen und runzelte konzentriert die Stirn.
,,Es ist alles in Ordnung. Sie ist bloß erschöpft.", murmelte die Heilerin. Rhysand schloss die Augen, sichtlich entspannter und strich liebevoll das braune Haar seiner Seelengefährtin aus ihrer Stirn.
Ich atmete auf und stellte mich mit schwankenden Beinen hin. Azriels Arm stützte mich, aber ich sah, wie sein Blick immer wieder zu Fenrys glitt. Die Tentakel hatten eine Wunde in sein Bein gerissen, als sie nach Aelin gegriffen hatten.
,,Geh...", murmelte ich leise und Azriel nickte dunkel. Sanft ließ er meinen Arm los und teilte den Wind, tauchte eine Sekunde später neben Fenrys auf. Er strich leicht um die Wunde, sein Blick ernst. Der weiße Wolf verwandelte sich zurück und knickte ein, sank mit schmerzerfülltem Gesicht zu Boden. Die Königin sah ihn erschrocken an und fing seinen Blick auf. Dann blinzelte sie drei mal. Einen Moment lang wartete sie, bis Fenrys einmal blinzelte und nickte.
Sie warf einen Blick auf sein Bein und schüttelte den Kopf. Dann blinzelte sie sechs mal. Lautlos formte sie mit den Lippen das Wort ,,Lügner" und Fenrys lächelte gequält.  Die Königin warf einen Bick auf Azriel, kniff die Augen zusammen und schätzte ihn ab. Der Schattensänger spürte ihren Blick und sah sie unverwandt an, sein Gesicht eine kalte Maske.  Aelin runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
Yrenes Aufmerksamkeit wand sich Fenrys zu, sie lief auf ihn zu, ihr Blick klar und konzentriert.
,,Alle, die nicht verletzt sind, verschwinden aus diesem Raum.", sagte sie, vollkommen auf Fenrys Bein fokussiert.
Mit einem Seitenblick auf Azriel fügte sie sanft hinzu: ,,Du kannst bleiben."
Rowan stützte Aelin, die ihm unentwegt versicherte, dass es ihr gut ginge, Mor folgte ihr mit Hasar und Cassian an der Seite, Lysandra und Aedion schlossen sich ihnen an.
Manon blieb im Türrahmen stehen und sah zu mir. Kurz schien sie zu zögern.
,,Komm mit, kleine Lichtquelle. Du musst Dorian zeigen, wie er deine Macht erlangen kann."

MareileWo Geschichten leben. Entdecke jetzt