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Der erste März um Punkt 0 Uhr, als ich die Kerze ausbließ und die Dunkelheit mich umhüllte, wie ein hauchzarter Schleier.

Wärme stieg in mir auf.
Es wurde immer heißer, als würden sich die warmen Strahlen des Sommers bereits tief in mein Herz prägen.
Schweißperlen, die langsam kullerten und zu Boden tropften. Wildverrücktes Herzrasen. Schnappatmungen.

Mir wurde plötzlich so anders.

Ein Gefühl kehrte in meinen Körper, über das ich schon lange vergessen hatte.
Es traf in mich, wie ein Deja vú.

,,D-du", mit bebender Stimme klammerte ich mich fester an die Kerze, wobei ich das heiße, geschmolzene Wachs auf meiner Haut verspüren konnte.
Brandblasen, die meine Finger in wenigen Sekunden verzieren würden.

Ein Bild eines Jungen druckte sich ab.
Das Gesicht kannte ich, auch den Namen.
Aber woher?

Ich war überzeugt davon, diesen Menschen noch nie begegnet zu sein, aber er war da.
Alles an ihm hätte ich haargenau beschreiben können.
Diese schwarzen Haare, die über sein Gesicht fielen.

Die Welt des Grauens spiegelte sich in den Augen des traumatisierten Jungen.
Er weinte. Er schrie.
Dennoch blieb sein Aussehen engelsgleich.
Sein Alter unbekannt.
Wahrscheinlich ein Grundschüler, wenn er nicht doch noch den Kindergarten besuchte.

Auch wenn er als Kindesgestalt vor mir stand, fühlte es sich an, als wäre er ein Erwachsener, der sein Leben mit reiner Trauer verbrachte, einige Beziehungen hinter sich hatte, in der Leistungsgesellschaft einkrachte und deshalb in den Weiten des Drogenviertels verloren ging.
Immer weiter säufte er ab, aber er war doch noch ein Kind!

Ein Kind, was dichte Narben des Lebens in sich trug. Ein starkes Kind.

Er verschwand nicht, obwohl er nur in meinen Gedanken lebte.
Vor meinen Augen winkte er mir panisch zu, doch ich konnte nicht reagieren.

Wie gelähmt starrte ich ihn an, versuchte seine Gestiken zu mir zu verstehen. Er sprach zu mir. Ein Stummfilm spielte sich jedoch ab, als hätte einfach jemand den Ton des Fernsehers leise gestellt, um nicht gestört zu werden.

,,I-ich weiß wer du bist!", rief ich zu ihm, bemerkte plötzlich ein zwicken in meinen Beinen, was sich von Sekunde zu Sekunde immer mehr verstärkte, beinahe schmerzhaft.
Am liebsten hätte ich gegengeschnipst, konnte mich aber nicht bewegen.
Mein Körper steckte in völliger Trance.

Der Junge verblasste vor meinen Augen immer mehr, was mich panisch werden ließ.

,,Ich weiß es, Ich weiß es! Du heißt-"

00:01 schlug die Uhr, wobei mein erster Blick auf meine Kerze in den Händen fiel. Ein leichtes Seufzen wich von meinen Lippen in dieser Dunkelheit.

Erst jetzt schaute ich weiter hinunter auf Raffles, der immer wieder an meinem Bein nagte. Er sah, was mit mir geschehen war, wollte mich deshalb aus meinen Gedanken befreien, doch meine Erinnerungen der letzten Minute waren wie ausgelöscht.

Als hätte ich mich an etwas erinnert, was nie stattgefunden hatte.
Ein Moment, der dem Mandela - Effekt zum verwechseln ähnlich sah.

Every March || VkookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt