Der große böse Wolf, der seine Klappe nicht halten kann.

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„DU bist der große böse Wolf?"
Selena hob den Blick von ihrem Teller. Sie hasste es, wenn man sie so nannte. Aber sie hasste es noch mehr, wenn man sie beim Essen unterbrach.
Zwei Frauen standen vor ihr, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Eine war groß, dünn und knochig wie ein laufendes Skelett. Die andere war klein, dick und schwulstig wie eine gepellte Wurst. Die Frauen trugen die kurzärmligen und hässlich Uniformen, die jeder Insasse im Märchengefängnis tragen musste.
Genau die gleiche Uniform trug auch Selena. Sie kratzte auf ihrer Haut, aber immerhin sah sie gut aus in dem hässlichen Kleiderfetzen. Ganz im Gegenteil zu diesen Möchtegern-Prinzessinnen, die vor ihr standen.
Sie unterdrückte ein Seufzen. Mit den Neulingen war es immer dasselbe Spiel. Sie kamen zu ihr herüber, spielten sich auf und wollten zeigen, wie tough sie waren und bekamen dabei nichts anderes von Selena als die Blamage ihres Lebens.
„Ui, Schwester, schau mal wie böse die einen anschauen kann", kicherte die Dünne und stieß der Dicken mit dem Ellbogen in die Seite.
„Zeig doch mal deine Zähne, großer böser Wolf!", gackerte die Dicke und beide fingen an zu lachen. Dabei klangen sie wie Hyänen. Selenas Nackenhaare stellten sich auf. 
„Ich weiß, ihr braucht eure Aufmerksamkeit, aber ich warne euch nur einmal", erwiderte Selena gelassen und beugte sich wieder über ihren Teller mit der frischen Suppe.
Vielleicht sind sie ja schlauer als sie aussehen, hoffte sie.
„Hey!" Die Dicke schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Suppe schwappte über den Tellerrand. Selena hielt mit dem Löffel inne und schaute zur Dicken, die sich vor ihrem Tisch aufplusterte. Sie versuchte sich größer zu machen als sie war, obwohl das mit ihrer Körpergröße kaum möglich war und es wirkte lächerlich in Selenas Augen.
„Das ist verdammt unhöflich zwei Prachtfrauen wie uns zu ignorieren", beschwerte die Dicke sich und Selena hob nur unbeeindruckt eine Augenbraue.
„Ja, sehr unhöflich", wiederholte die Dünne nickend und stemmte ihre Hände in die Hüften. „Antworte gefälligst auf die Frage, die wir dir gestellt haben."
Selena bedachte beide mit einem abschätzenden Blick.
„Was, wenn ich nicht in Antwortlaune bin?", erwiderte Selena. Zwei silberne Messer blitzte in den Händen der Schwestern auf. Aber Selena zuckte nicht mit einer Wimper. Sie hatte das Silber bereits gerochen, als die beiden Dumpfbacken zu ihr an den Tisch getreten waren.
Lächerlich, dachte Selena amüsiert, während sie die zwei Stiefschwestern musterte. Natürlich wusste sie, WEN sie hier vor sich hatte. Die zwei Stiefschwestern waren Gelegenheitsverbrecher, die sich mit Betrügerei und Diebstahl durch schlugen. Sie waren kleine wehrlose Mäuschen. Nichts mehr.
Ihre animalische Seite verstärkte sich und zufrieden bemerkte sie die Gänsehaut auf der nackten Haut der Schwestern. Dann stieg ihr Angst in die Nase. Selenas Grinsen wurde breiter.
„Grins nicht so dämlich, du Köter!", kreischte die Dicke auf einmal los und warf ihre Hände in die Höhe, um ihre Angst zu überspielen. Das silberne Messer in ihrer Hand blitzte auf, doch Selena wich ihren Hieben mühelos aus. Die Dünne kreischte ebenfalls auf und stürzte sich auf Selena.
Selena blockte den Hieb der Dünnen ab, schlug ihr das Messer aus der Hand und gab ihr einen kräftigen Tritt in die Magengrube. Die Dünne keuchte auf und fiel zurück gegen einen nahe gelegenen Tisch, mit dem sie zusammen auf den Boden krachte.
„Upps, entschuldige. War das unhöflich von mir?", kommentierte Selena amüsiert, bevor sie sich unter den Armen der Dicken hindurch duckte und ihr einen Kinnhaken verpasste. Der Kopf der Dicken wurde zurückgeschleudert, während sie qualvoll aufstöhnte. Zufrieden hörte Selena ein Knacken. Es war wie Musik in ihren Ohren.
Selena setzte einen gezielten Tritt gegen die Brust der Dicken und diese verlor das Messer, als sie nach Hinten taumelte und auf ihre Schwester krachte, die sich gerade versuchte wieder aufzurichten. Die beiden nörgelten lautstark und versuchten ihre Angst mit Wut zu überschatten. Die anderen Insassen wichen alle hastig zurück und eilten aus der Kantine.
Selena griff nach dem Suppenteller und warf ihn gegen die Schwestern. Die heiße Brühe spritze in deren Gesichter. Der Teller landete in dem Gesicht der Dünnen und zerschmetterte. Diese schrie auf vor Schmerz und fasste sich an die Wange. Blut rann durch ihre Finger, während die heiße Brühe an deren Haut brutzelte und die beiden Schwestern wie Sirenen auf kreischen ließ.
„Aaaauuuuuiiiiii!", kreischte die Dicke. „Mein Gesicht! Mein wunderschönes Gesicht!"
Selena griff nach den silbernen Messern. Sie verzog kurz das Gesicht, als das Silber auf ihrer Haut brannte. Doch sie ignorierte den Schmerz, als sie vor den beiden am Boden strampelnden Schwestern in die Hocke ging.
Die beiden verstummten erschrocken, als Selena die Messer vor ihren weit aufgerissenen Augen hielt. Die Stiefschwestern starrten Selena an, während diese ihre animalische Seite ganz nah an die Oberfläche holte. Zufrieden erkannte sie in den tränigen Augen der Schwestern, wie ihre gelben Augen glühten und ihre scharfen Eckzähne blitzten, als sie grinste. Pure Todesangst umwölkte die beiden Stiefschwestern wie ein schwerer Mantel.
„Da ihr die Neulinge seid, werde ich gleich mal zwei Dinge klarstellen, damit euer Aufenthalt hier so angenehm wie möglich verlaufen wird", meinte Selena und stieß das erste Messer nah am Kopf der Dicken in den umgefallen Tisch. Die Dicke schrie schrill auf und die Stiefschwestern klammerten sich zitternd aneinander.
Selena brachte beide mit einem Blick zum Schweigen, als sie um ihr Leben anfingen zu flehen.
„Erstens: Stört mich NIEMALS beim Essen." Selena beugte sich zu den beiden vor und rammte das zweite Messer zwischen die Beine der Dünnen. „Zweitens: Alle Geschichten, die ihr vom großen bösen Wolf gehört habt, sind wahr."
Selena grinste und gab ein leises, unheilvolles Knurren von sich. Der Gestank von Urin strich ihre Nase, als sie sich von den wimmernden Stiefschwestern erhob.
Die Kantine des Märchengefängnisses war jetzt leer bis auf ein paar Insassen, die sich geweigert hatten zu gehen. Diese starrten zu Selena. Sie sah den Hass und die Angst in den Augen, doch es war ihr egal. Wenn man hier überleben wollte, dann war beides von Vorteil. Das wusste sie nach vier Jahren in diesem Drecksloch. Selena knurrte zu den anderen Gefangenen, die hastig die Blick abwandten. 
„Lupus!", donnerte eine dunkle Stimme durch die Kantine. Ein Wärter mit grimmiger Miene kam auf sie zu. Normalerweise mischten sie sich nie in die Rangeleien der Gefangenen ein, doch dieser Wärter schien neu und unerfahren zu sein. Die Wärter wechselten fast wöchentlich, weil es keiner lange aushielt. Selena konnte es ihnen nicht verübeln bei all den Hexen, Kobolden, Tierwandlern und anderen Dreckspack, das hier seine Tage absaß. Wenn sie eine Chance hätte, das alles hinter sich zu lassen, dann würde sie das sofort tun. Kein Geld der Welt war es wert, hier zu sein. 
„Was zur Hölle hast du mit den Stiefschwestern gemacht!?", bellte der neue Wächter Selena an.
„Ich habe ihnen ein paar Manieren beigebracht", erwidere Selena achselzuckend und der Wärter blieb im sicheren Abstand vor ihr Stehen. Er hatte seinen Schlagstock fest in der Hand und seine Fingerknöchel traten weiß hervor.
Selena hob beschwichtigend die Hände. „Hey, ich hab euch Jungs nur einen Gefallen getan, bevor die zwei eine Stecherei in der Kantine veranstaltet hätten."
Der Wächter musterte sie eine Weile mit zerknirschtem Gesicht und Selena lächelte leicht, blieb aber ernst genug, damit er nicht meinte, sie würde sich über ihn lustig machen.
„Du hast einen Besucher, Lupus", sagte der Wächter schließlich.
Selena hob eine Augenbraue. Sie hatte niemals Besucher.
„Wen?", fragte sie den Wärter, der einen Kopf kleiner als sie aber stämmig gebaut war. Er schaute ihr furchtlos entgegen, was sie ziemlich beeindruckte. Er roch nicht mal nach Angst. Dieser Mann musste definitiv neu sein. Neu, aber verdammt naiv. Seine knorrige Nase, die kleinen Augen und seine angespitzten Ohren ließen Selena vermuten, dass er von Zwergen abstammte.
„Ein Mitglied vom Märchenrat", erwiderte der stämmige Zwerg und steckte seinen Schlagstock zurück an seinen Gurt.
Selena verschränkte die Arme vor der Brust. „Oh ha, das ist aber ein ehrenvoller Besuch. Ich weiß gar nicht, ob ich was Passendes zum Anziehen habe."
Der Wärter verzog das Gesicht. „Spar dir deinen Sarkasmus, Lupus. Die Sache ist ernst!"
„Ernst? Im Sinne von: Oh, nein! Die Welt geht unter! Oder nur: Du warst ein böses Mädchen und wir müssen mit dir reden! ...?"
Der Zwerg beäugte sie eine Weile ohne, dass Selena wusste, was er dachte. „Man hat mich schon gewarnt, dass du ein Klugscheißer bist."
Selena legte empört eine Hand an ihre Brust. „Klugscheißer? Ich?"
„Kommst du jetzt mit, Lupus? Oder muss ich Gewalt anwenden?"
Der Zwerg legte eine Hand auf den Schlagstock und lieferte sich ein Augenduell mit Selena. Ohne, dass sie es wollte, stieg ihr Respekt für diesen Wärter.
Schließlich seufzte Selena und zuckte mit den Schultern. „Ich hab eh nichts besseres zu tun und ich habe auch keine Lust, dich zu verletzen", meinte sie und grinste. Das Gesicht des Zwergen verhärtete sich.
„Nach dir, Lupus", knurrte er und trat zur Seite. Selena zögerte einen Augenblick, aber ging dann so entspannt wie möglich an ihm vorbei. Sie bemerkte die neugierigen Blicke und die Fragen in den Augen der anderen Gefangenen. Doch sie zwinkerte ihnen nur zu, was einige sichtlich empörte.
Als Selena aus der Kantine geführt wurde, kam sie an zwei anderen Wärtern vorbei, die sie kannte. Diese warfen ihr mürrische Blicke zu.
„Wunderschöner Tag heute, nicht wahr, Jungs?", flötete Selena.
„Elendiger Wolfsköter ...", zischte einer der beiden. Er hatte nur ein Auge und war breiter und größer als der andere. Er stammte von den Zyklopen ab. Der andere Wärter, schmäler und kleiner, ergriff den Arm des Zyklop-Wärter und bedachte ihn mit einem warnenden Blick.
„Beruhige dich, Brent. Die ist es nicht wert."
Der Zyklop-Wärter trat auf Selena zu und hob seine Hände mit den drei Fingern, als wollte er sie würgen. Obwohl alle Instinkte in ihr schrieen, bewegte sich Selena nicht vom Fleck.
„Hast mal wieder schlecht geschlafen, Brent? Vielleicht solltest nicht so viel trinken. Du stinkst immer noch nach schlechtem Bier und billigem Schnaps", erwiderte sie frech. Brent gab ein tiefes, wütendes Grollen von sich. Selenas Muskeln spannten sich alle an, ihre Sinne schärften sich und - 
„Hey!" Der Zwerg drängte sich zwischen Selena und den Zyklop-Wärter. Mit einer Kraft, die Selena ihm nicht zugetraut hätte, schob er den Zyklopen von ihr weg und hob warnend seinen Schlagstock in dessen fassungsloses Gesicht.
„So sehr es mich auch in den Finger juckt, ihr an die Gurgel zu gehen, wir dürfen sie nicht verletzen. Nicht, solange der Märchenrat sie noch braucht."
„Er hat Recht, Brent", sagte der Wärter neben dem Zyklopen und spuckte Selena vor die Füße. Selena verzog angewidert das Gesicht.
„Beim heiligen Mond, kannst du deinen Speichel nicht wie jeder andere einfach schlucken?"
„So eine Menschenfressende Bestie wie du, Lupus, verdient es nicht, am Leben zu bleiben", knurrte der Zyklop, wich aber zurück. Selenas Gesicht wurde zu einer harten Maske, während in ihr Gefühle tobten. Sie kämpfte mit ihrer animalischen Seite. Alles in ihr schrie, dass sie sich wandeln und diesen Zyklopen zwischen ihren Zähnen zerfetzen sollte. Sie wollte sein Blut schmecken für das, was er gesagt hatte.
Speichel sammelte sich in ihrem Mund und sie merkte, wie sich ihr Kiefer anspannte und ihre Fingernägel wuchsen. Der Zyklop-Wärter und sein Freund wichen weiter von ihr zurück bis an die gegenüberliegende Wand, doch der Zwerg blieb bei ihr stehen.
„Lupus!", bellte er und stieß ihr mit dem Schlagstock gegen die Brust. Selena strauchelte und seine Dreistigkeit hatte sie so überrascht, dass sie merkte, wie sie drauf und dran war sich zu wandeln und ihn zu verschlingen.
„Beruhige dich. Die sind es nicht wert", zischte der Zwerg und erwiderte ihren glühenden Blick furchtlos. Sie war irritiert für einen Moment, doch das reichte, um wieder die Kontrolle zu bekommen. Hastig schüttelte sie den Kopf und beruhigte ihr Inneres. Die animalische Seite zog sich zurück und hinterließ nur einen leichten Schweißfilm auf ihrer Haut.
„Auf geht's, Lupus. Das Ratsmitglied hat nicht ewig Zeit und wird auf dich warten", sagte der Zwerg und bedeutete ihr weiterzugehen. Selena warf dem Zyklopen einen letzten Blick zu und gab ein leises Knurren von sich. Der Zyklop fletschte die Zähne als Antwort.
Danach folgte Selena dem Zwerg durch die Gänge des Märchengefängnisses zu dem Besuchertrackt. Sie war noch nie dort gewesen, seit sie hier war. Während sie durch die hellen Gänge lief, die beinahe freundlich wirkten, fragte sie sich, warum der Märchenrat sie sehen wollte. Vor allem der Kommentar des Zwergen schwirrte ihr im Kopf herum, dass man sie nicht verletzen durfte, Weiler Märchenrat sie brauchte.
Irgendetwas musste passiert sein ... oder wollte der hinterhältige Rat sie nun doch zum Tode verurteilen für das, was sie angeblich getan hatte? Hatten sie sich anders entschieden und nun wartete einer dieser Speichellecker auf sie nur, um sie breit grinsend zu informieren, dass sie am Morgengrauen aufgehängt werden würde?
„Was will der Märchenrat von mir?", erkundigte sich Selena, während sie dem stämmigen Wärter folgte. Dieser zuckte mit den Schultern.
„Ok, cool. Das ist wirklich eine sehr aussagekräftige Antwort", kommentierte Selena. Sie beschlich das Gefühl, dass, was auch immer dieses Ratsmitglied von ihr wollte, definitiv nichts Gutes war. Sie hatte das Gefühl, sie würde ihrem Tod entgegen laufen.
„Bist du eigentlich einer der sieben Zwerge?", wandte sich Selena an den Wärter. „Ich hab mal gehört, dass die es alle mit Schneewittchen treiben. Ist das ..."
„Ich bin keiner der sieben Zwerge! Diese Zwerge sind eine Schande für jeden Zwerg. Wage es nicht mich nochmal mit ihnen zu vergleichen oder du kommst nicht lebend zum Märchenrat."
Der Wärter führte sie zu den Besucherzimmern und je weiter sie gingen, desto weniger Wächter waren unterwegs und desto mehr plapperte Selena. 
„Mann, ich wünschte, ich hätte mein cooles, rotes Outfit heute angezogen. Diese hässliche Uniform unterstreicht einfach NICHT meine Augen", seufzte Selena und registrierte, dass die Überwachungskameras ausgeschalten waren. Ihre Instinkte schrieen alarmiert auf.
Der stämmige Wärter stieß einen Fluch aus und rang mit den Händen. „Hältst du eigentlich mal die Klappe?!"
„Selten."
„Ich kann wirklich nicht verstehen, warum die anderen Wärter solche Angst vor dir haben?!", fing er an sich aufzuregen, als die beiden vor einem kleinen Besucherraum stehen blieben. Selena ließ ihn sich ereifern, was für falsche Hoffnungen ihm die anderen gemacht haben. Er dachte, sie wäre DER große böse Wolf, der von allen gefürchtet wurde, doch da wäre er bitterlich enttäuscht worden.
Selena beachtete ihn nicht, während sie sich unauffällig versicherte, dass die beiden alleine waren. Die letzten Wärter, die sie passiert hatten, waren hinter der letzten Ecke. Wenn sie schnell war, dann würden sie nichts bemerken.
Ihr Blick glitt zur Besuchertür zurück. Die Tür war aus schwerem Stahl und mit der Nummer „003" markiert.
Wer auch immer dort auf sie wartete, sie würde garantiert nicht unbewaffnet da hineingehen. Vergangene Erfahrungen haben ihr beigebracht, dass sie niemandem außer sich selbst trauen konnte und dass sie definitiv nicht unbewaffnet irgendwo hineinging.
„... und dann stellt sich heraus, dass du eine lausige Tussi bist, die sich Sorgen macht, wie sie aussieht, und ..."
Selena bewegte sich schnell. Mit zwei gezielten Hieben hatte sie den Wärter bewusstlos geschlagen und sich seinen Schlagstock sowie den Taser angeeignet. Lautlos ließ sie ihn zu Boden sinken und bemerkte, dass er verdammt schwer war.
„Zu meiner Verteidigung, ich hatte auch mehr Erwartungen an dich", erklärte sie dem bewusstlosen Wärter. Selena erhob sich rasch, umklammerte den Schlagstock und öffnete die Tür, die zu ihrer Überraschung unverschlossen war.
Das ist alles zu leicht, schoss es ihr durch den Kopf und ihr Körper spannte sich an. Ihre animalische Seite drang nah an die Oberfläche und sie war bereit sich in einen wirklich großen, bösen Wolf zu verwandeln, wenn es die Situation erforderte.
Mit erhobenem Schlagstock trat Selena in den kleinen Raum und zielte mit dem Taser auf einen kleinwüchsigen Mann, der sie erstaunt anschaute. Der Geruch von Lebkuchen und Wald stieg ihr in die Nase.
Sie blinzelte, als sie bemerkte, dass er der einzige in dem kleinen Raum war. 
"Hänsel?", entfuhr es Selena verwundert und der Mann grinste sie breit an.
"Selena, du hast dich, wie ich sehe, nicht verändert", sagte er erfreut, sprang von dem Stuhl und kam mit offenen Armen auf sie zu. Selena lachte, ging in die Knie und umarmte ihn fest, nachdem sie eilig den Schlagstock und Taser weggelegt hatte.
Hänsel roch nach frisch gebackenen Lebkuchen und Nadelbäumen. Es war eine seltsame Mischung, aber was sollte man auch erwarten von dem Sohn der Lebkuchenhexe und dem Herren des Waldes.
„Wo ist Gretel?", erkundigte sich Selena und setzte sich zu ihm an den kleinen Tisch, der in dem hellen Raum platziert war. Außer dem Tisch und zwei Stühlen war der Raum leer. Nicht mal ein Fenster hatte er, was Selena schade fand. Sie hätte gerne mal wieder einen anderen Ausblick gehabt außer den Innenhof des Gefängnisses.
Hänsel lächelte ihr zu. „Ihr geht es gut. Sie kümmert sich um das Lebkuchenhaus unserer Mutter und erfindet laufend neue Süßigkeiten. Sie ist sehr kreativ und hingebungsvoll in ihrer Arbeit."
Selena nickte. „Ich kann mich an ihre Heidelbeer-Nuss-Muffins erinnern. Die waren verdammt lecker."
„Ja, die sind auch immer noch sehr lecker und SEHR beliebt." Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck. Er wurde ernster und trauriger. „Selena, es tut mir Leid, was dir passiert ist. Ich kann es nicht glauben, dass Rotkäppchen damit durchkam." Er legte seine kleine Hand auf ihre, doch sie wich zurück.
„Ja, niemand hat das erwartet. Am wenigsten ich ...", murmelte Selena und fühlte sich sichtlich unwohl bei dem Thema. Es war etwas, über das sie nicht sprechen wollte. Denn zu groß war ihre Scham darüber, wie dumm sie gewesen war.
„Gretel und ich hatten gehofft, dass unsere Aussagen helfen würden, aber ...", murmelte Hänsel.
„Warum bist du hier?", unterbrach Selena ihn. Ihre Stimme war schärfer als gewollt, daher schob sie noch ein leichtes Lächeln nach. Hänsel warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Dann seufzte er und faltete die Hände auf dem Tisch.
„Ich ... oder sagen wir der Märchenrat hat eine Mission für dich."
„Eine Mission für MICH?", lachte Selena. „Ernsthaft jetzt?"
Hänsel bedachte sie mit einem strengen Blick. „Selena, es ist eine gefährliche Mission, bei der du vielleicht nicht lebend rauskommst, aber ich wüsste niemanden, der besser dazu geeignet wäre. Außerdem konnte ich die anderen überzeugen, dass, wenn du das schaffst, du freigesprochen wirst."
Selena schwieg einen Moment, bevor sie sich wieder an Hänsel wandte. „Du verarscht mich nicht, oder?"
„Nein!", versicherte er vehement. „Das würde ich nie tun, Selena. Du weißt, dass Gretel und ich dir unser Leben zu verdanken haben,weil du uns damals von dieser Bärherde gerettet hast und wir sind dir ewig dafür dankbar. Deswegen haben wir auch all die Jahre versucht, dir zu helfen und jetzt ... jetzt gibt es eine Chance, dich aus diesem Loch herauszuholen." Hänsel zögerte. „Zwar ist eine sehr gefährliche und waghalsige Chance, aber es ist eine Chance."
Selena lehnte sich in dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war mittlerweile fast vier Jahre in dem Märchengefängnis mit all den bösen und gewalttätigen Wesen. Sie hatte sich mühevoll und hart den Status als gefürchteter böser Wolf erkämpfen müssen und war einige Mal nur knapp mit ihrem Leben davongekommen.
Ja, es war ein Loch, in dem sie täglich um ihr Überleben kämpfte. Und ja, sie wollte wieder raus in die Freiheit. Sie wollte in den Märchenwäldern herumlaufen und jagen ... aber dennoch war sie misstrauisch, was diese Mission anging. Andererseits gehörten Hänsel und Gretel zu den wenigen Freunden, die Selena noch hatte, und sie vertraute ihnen ... oder sie versuchte es zumindest.
„Der Rat muss ziemlich verzweifelt sein, wenn sie mich rausholen wollen für diese Mission", meinte Selena nachdenklich und musterte Hänsel aufmerksam.
„Du hast ja keine Ahnung, Selena", seufzte Hänsel und verzog das Gesicht. „Es sind nicht nur die Märchenländer, die verzweifelt sind, sondern auch alle anderen."
Diese angebliche Mission stank so dermaßen, dass Selena nicht wusste, ob sie den Verstand verloren hatte, als sie schließlich sagte: „Erzähle mir mehr."

Die drei Mythengetiere Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt