Auf dem Schwarzmarkt mit dem Herrn der Fliegen

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Selena konnte es nicht fassen: Sie war wieder an der frischen Luft! Sie war frei!
Statt Schweiß, zu viel Parfüm und angebranntem Essen roch sie endlich wieder Blumen, exotische Gewürze und ... Tod?
Selena blinzelte und schnupperte in der Luft. Ein junges Mädchen lief an ihr vorbei. Ihr Blick war entschlossen, während sie ihren Weg durch die Besucher des Marktes bahnte. Dabei nahm sie keinerlei Rücksicht und erntete einige erbosten Blicke und Flüche. Der Geruch von Tod und verbrannter Haut klebte an ihr, bevor sie in der Menge verschwand. Selena rümpfte die Nase und musste ein Würgen unterdrücken.
Hatte das Mädchen eine totes Tier unter ihrem knalligen pinken Mantel versteckt?
Selena würde das nicht wundern. Hier auf dem Schwarzmarkt war alles möglich. So viel sie wusste, wurden hier nicht nur Drogen und magische Artefakte unter der Hand verkauft, sondern auch lebende und tote Kreaturen aus allen Märchen und Mythologien.
Auf dem Schwarzmarkt wurden alle Wünsche und Begehren erfüllt. Seien sie noch so absurd oder ekelig. Für jeden Geschmack gab es einen Verkäufer und Käufer. Deswegen war der Schwarzmarkt auch so begehrt und so geheim. Wenn man einer der wenigen Auserwählten war, die wussten, wo der Schwarzmarkt stattfand, dann war das ein Privileg.
Selena war froh, dass sie auch nach Jahren im Gefängnis noch die richtigen Leute kannte. Denn sie wusste, dass sie die Informationen, die sie brauchte, nur auf dem Schwarzmarkt bekam. Der pinke Mantel des Mädchens blitzte erneut in der Menge auf und Selena hob den Blick.
Das Mädchen stand an einem der Stände, die Hände in die Hüften gestemmt und musterte das Sortiment an bunten und exotischen Früchten. Sie begann mit dem Händler zu diskutieren und gestikulierte dabei wild, bevor dieser ihr wütend klar machte, dass sie verschwinden sollte. Missmutig stampfte das Mädchen davon und Selena bemerkte, wie sie mit der linken Hand schnipste.
Kurz darauf brach die Auslage des Händlers zusammen und die Früchte ergossen sich über den Boden. Der Händler schrie panisch auf und machte sich daran seine Ware wieder aufzusammeln. Sein Fluchen und Geschrei war über den gesamten Marktplatz zu hören.
Selena schüttelte leicht den Kopf. Wenn ihr pinker Mantel nicht schon genug Aufsehen erregen würde, dann auf jeden Fall ihr hochnäsiges und zauberndes Verhalten. Wahrscheinlich war sie irgendeine von diesen eingebildeten Prinzessinen, die sich hier einen Prinzen kaufen wollten. Das war tatsächlich nicht so ungewöhnlich, wie es sich anhörte. Selena konnte mindestens drei Prinzessinnen aufzählen, die das gemacht hatten. 
Selenas Blick glitt weiter über die diversen Gestalten, die sich auf dem Markt tummelten. Von Trollen, Hexen, Zwergen, bösen Stiefmüttern, mystischen Kreaturen und naiven Möchte-gern-Adeligen war alles vertreten. Jeder ging seinem eigenen Geschäft nach und hatte seine Gründe, warum er oder sie hier waren. Aber jeder wollte auch möglichst seine Privatsphäre wahren und nicht ungewollte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 
Selena ging zu dem Händler mit den Früchten und half ihm seine Ware wieder einzusammeln. Zwei Trolle halfen ebenfalls und bald schon war der Großteil der Früchte gerettet. Der Händler bedankte sich überschwänglich und gab jedem Helfer einen blauen Apfel.
Selena bedankte sich und steckte den Apfel in ihre Gürteltasche, bevor sie sich gut gelaunt über den Markt bewegte. Sie roch die Magie, die die Luft flimmern ließ. Es war ein buntes Gemisch aus diversen Düften: Von süßem Honig, feuchter Erde bis hin zu salzigen Kartoffeln und frischem Regen. Jedes Magie begabte Wesen hatte seine eigene magische Note. Es war wie ein magischer Fingerabdruck, der an jedem Zauber haftete.
Selena fuhr sich über ihre nackten Arme, auf denen sie diverse Runen und magische Schutzsigel eintätowiert hatte. Ihre Tattoos waren nicht nur irgendwelche coolen Symbole, sondern sie hatten alle eine bestimmte Funktion:
Sie würden sie vor magischen Angriffen zu schützen. Oder zumindest vor den meisten.
Es hatte sie ein Vermögen und einige Jahre gekostet, diese stechen zu lassen, aber Selena war in solchen Momenten froh, dass sie all die Kosten und Mühen auf sich genommen hatte. Denn an Orten wie den Schwarzmarkt sollte man nie ungeschützt verweilen. Es gab zwar Regeln für Magie und das Verhalten als Besucher. Doch darauf konnte man sich nicht immer verlassen. Selena hatte die Ausnahmen oft genug erlebt.
Der Schwarzmarkt war neutrales Territorium, auf dem sich die Besucher friedlich verhalten mussten. Es durfte daher keine Waffe gegen einen anderen erhoben werden. Es durfte keine Magie verletzend und manipulierend eingesetzt werden. Niemand durfte den Frieden stören. Vor allem keine Besucher, denn wenn es hart auf hart kam, dann waren die Händler stets im Recht. Sie standen unter dem Schutz des Schwarzmarktes und nicht die Besucher.
Hatte sich ein Besucher einmal daneben benommen, dann wurde diesem bis in alle Ewigkeit das Recht entzogen, den Schwarzmarkt erneut zu betreten. Keiner, der bei Verstand war und den Wert des Schwarzmarktes schätzte, wollte DAS riskieren. Deswegen war absurderweise der Schwarzmarkt einer der friedlichsten Orte in allen vereinigten Ländern der Märchen und Mythen.
Selena hatte diese Tatsache schon immer amüsiert. Sie schlenderte langsam über den Markt. Alle Stände waren spiralförmig angerichtet und auf den ersten Blick würde man meinen, dass es sich um einen ganz normalen Markt handelte. Denn auf den Ständen gab es Früchte, Gemüse, Fleich, Fisch, Stoffe und vieles mehr. Nichts, dass darauf hinweisen könnte, dass man hier das richtig üble illegale Zeug kaufen konnte. Aber das war auch das Geheimnis des Schwarzmarktes.
Selena rückte ihre rote Weste zurecht und zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht. Noch hatte niemand sie erkannt, obwohl sie einige bekannte Gestalten gesehen hatte. Doch das war ihr nur Recht. Sie wollte kein Aufsehen erregen.
Suchend glitt ihr Blick über die Stände. Es gab einen bestimmten Händler, nach dem sie Ausschau hielt. Ein Händler, der sein Hauptgeschäft damit machte, Informationen zu verkaufen. Als sie ihn endlich ausfindig gemacht hatte, stellte sie erstaunt fest, dass das Mädchen mit dem pinken Mantel bei ihm am Stand war.
Sie stach wie ein Leuchtfeuer zwischen den düsteren Gestalten hervor. Sie scheuchte gerade zwei Trolle, die mindestens doppelt so groß und breit wie sie waren, von dem Stand weg.
Mut hat die Kleine, dachte Selena und holte den blauen Apfel aus ihrer Gürteltasche.
„Was machst du jetzt, Dummkopf?", murmelte Selena, als sie beobachtete, wie das Mädchen mit dem pinken Mantel mit Grerr, dem Händler, redete. Er war ein Zwerg aus der nordischen Mythologie und einer der wenigen, die zwischen allen Ländern hin und her wanderten. Er brachte stets den neuesten Klatsch, Tratsch und die seltensten Waren mit sich. Daher war er auch der Grund, warum Selena hier war.
Das Mädchen stemmte die Hände in die Hüften und baute sich vor dem Zwerg auf, was in Selenas Augen ziemlich lächerlich aussah. Sie wirkte wie ein unschuldiges kleines Schulmädchen, das dem grobschlächtigen Grerr ihre Meinung sagen wollte. Ein Grinsen huschte über Selenas Lippen, während sie ein kleines Stück von dem blauen Apfel abschnitt und den Rest wieder in ihre Tasche packte.
Grerr musterte das Mädchen eine Weile spöttisch und lachte sie sogar aus, doch da hob das Mädchen die linke Hand und schnipste. Augenblicklich erstickte sein Lachen und er griff sich an den Hals – keuchend nach Luft.
„Fuck!", stieß Selena aus und hastete über den Marktplatz, zwischen diversen Wesen hindurch und kam bei dem Mädchen an. Diese starrte wütend auf den Zwerg, als Selena sich geräuschlos hinter ihr aufbaute.
„Na, das Lachen ist dir jetzt wohl vergangen, Grerr, mmh?", knurrte das Mädchen, bevor Selena ihr Handgelenk packte. Das Mädchen riss die Augen auf, stieß einen derben Fluch aus und starrte Selena aufgebracht an.
Selena bemerkte die zwei unterschiedlich farbigen Augen, die sie empört anstarrten. Der Geruch nach Tod und verbrannter Haut steigerte sich. Er brannte in Selenas Nase und drehte ihr beinahe den Magen um, doch sie ließ die Hand nicht los, als sie sich zu der Kleinen herunterbeugte.
„Wenn dir dein Leben lieb ist, Kleine, dann würde ich den armen Grerr wieder runterlassen und hoffen, dass er nett genug ist, dir zu vergeben", erklärte Selena lächelnd. Das Mädchen mit den unterschiedlich farbigen Augen erwiderte ihren Blick mit einem ironischen Lachen.
„Ich fürchte den Tod nicht ... ich bin DER Tod!"
Selena hob eine Augenbraue. „Das erklärt, warum du so danach stinkst."
Das Mädchen öffnete brüskiert den Mund. „Ich STINKE!?"
Selena verzog das Gesicht und wedelte mit einer Hand, in der sie noch das kleine Apfelstück hielt, vor der Nase. „Ja, ziemlich heftig sogar. Wann hast du das letzte Mal ein Bad genommen?"
Das Mädchen riss sich von Selena los und funkelte sie an. „Ok, das ist genug. Ich werde dich hier und jetzt ..." Sie hob ihre linke totenbleiche Hand vor Selenas Nase – Mittelfinger auf den Daumen gepresst bereit zu schnispen.
Aha, so zauberst du also, dachte Selena zufrieden.
Nicht nur hatten Magie begabte Wesen einen magischen Fingerabdruck, sondern es gab immer bestimmte Gesten, mit denen sie Magie ausüben mussten. Manche mussten mit die Fersen aneinander schlagen, ihre Arme zweimal im Kreis drehen oder einfach nur schnipsen.
Selena griff blitzschnell nach der Hand des Mädchens, riss ihre Finger auf und brach ihr den Daumen.
„BEI ODIN!!!", kreischte das Mädchen auf, Tränen traten ihr in die Augen und sie wich zurück, während sie ihre linke Hand mit dem gebrochenen Daumen an sich drückte. „HAST DU SIE NOCH ALLE?!"
„So viel zu: Ich bin DER Tod", kommentierte Selena mit einem Augenrollen und packte das maulende Mädchen grob am Nacken.
„Keine Sorge, der Daumen wächst wieder zusammen. Ich kenne einen guten Trank dafür."
Das Mädchen schrie auf und Selena steckte das blaue Apfelstück in ihren Mund. Das Mädchen protestierte, während Selena sie eisern festhielt und ihr eine Hand auf den Mund presste, damit sie den Apfel nicht wieder ausspuckte.
„Sei ein braves Mädchen und ... AU!"
Das Mädchen hatte ihr gegen das Schienbein geschlagen, doch das lockerte nicht Selenas Griff. Schließlich wirkte der Apfel und das Mädchen beruhigte sich. Ihre Augen wurden trüb und sie hörte auf sich zu wehren. Vorsichtig ließ Selena das Mädchen auf den Boden sinken und öffnete eine kleine Tasche an ihrem Gürtel. Sie holte ein silbeneres Amulett heraus, darauf bedacht das Silber nicht zu berühren. Die bloße Präsenz von Silber verursachte Selena bereits einen Juckreiz auf der Haut.
„Fuck, wie ich Silber hasse", murmelte Selena. „Warum muss es immer dieses verdammte Silber sein?"
Das Mädchen lächelte vor sich hin, griff nach ihrem gebrochenen Daumen und setzte ihn mit einem lauten Knacken wieder zusammen, als wäre er nie gebrochen worden. Sie kicherte, seufzte und schaute dann in den Himmel.
„Cooler Trick", meinte Selena. „Den musst du mir mal beibringen."
„Ich werde dich foltern wie noch nie jemand vorher gefoltert wurde", lachte das Mädchen und hinter den trüben Augen bemerkte Selena den Hass aufblitzten.
„Wirklich?", erwiderte Selena amüsiert und hielt ihr das silberne Amulett entgegen. „Ich hoffe, du hältst deine Versprechen. Das klingt nämlich nach Spaß."
Das Mädchen wirkte irritiert von Selenas Antwort.
„Wer bei Odin bist du?", wollte das Mädchen schließlich wissen und verengte die Augen, bevor sie wieder los kicherte. Selena seufzte, schnipste einmal gegen das silberne Amulett, was ihr ein kurzes Brennen auf der Haut verursachte, und warf es dann auf das Mädchen. Diese wehrte sich nicht und das Amulett legte sich um ihren dünnen Hals. Sobald das Silber ihre Haut berührte, schrie das Mädchen qualvoll auf und rollte sich auf den Boden zusammen.
„Oh, ich dachte, der Apfel würde das weniger schmerzhaft machen", stellte Selena fest und beobachtete fasziniert, wie die totenbleiche Haut des Mädchens auf der linken Seite aufbrach und rotes verbranntes Fleisch darunter zum Vorschein kam. Selena verzog das Gesicht und konnte sich ein „Iiih" nicht verkneifen.
„Das ist deine wahre Gestalt?", fragte Selena, als die gesamte linke Körperhälfte des Mädchens sich zu einer verbrannten roten Haut verwandelte.
„Du hattest sicherlich keine leichte Kindheit, mmh?" 
„Selena Lupus", erklang eine surrende Stimme hinter ihr. Selena schaute über die Schulter und entdeckte eine kleine Fliege direkt vor ihrem Gesicht.
FUCK, schoss es ihr durch den Kopf.
„Oh hallo", grüßte sie die Fliege, die sie anstarrte. Selena war sich nicht sicher, ob es ein mürrischer Blick war. Das war wirklich schwer auszumachen bei dem winzigen Fliegengesicht.
„Mein Herr wünscht zu wissen, was hier für eine Unruhe ist", surrte die Fliege und Selena fragte sich, wie es dieser möglich war so laut zu reden.
„Ehm ...", begann Selena und setzte das unschuldigste Lächeln auf, das ihr möglich war. "... ich habe nur verhindert, dass das Mädchen hier ..." Selena deutete auf das Mädchen, das schwer keuchend am Boden lag. Mittlerweile war ihre komplette linke Körperhälfte verbrannte rote Haut. Ihre rechte war immer noch  normale Haut. Ihr pinker Mantel war staubig vom Boden und Schweiß rann ihr über das Gesicht. Selena bekam fast Mitleid, aber nur fast.
„ .... gegen die Regeln verstößt. Sie war drauf und dran Grerr mit Magie ersticken zu lassen."
Die kleine Fliege flog zu dem Mädchen herüber und dann zu Grerr, der mittlerweile an seinem Stand lehnte und sich den Hals rieb. Die Fliege machte seltsame quietschende Laute, die Selena nicht verstand, und Grerr nickte mürrisch. Darauf kam die Fliege zurück zu Selena.
„Der Herr der Fliegen dankt dir", verkündete die Fliege. „Und wünscht Euch weiterhin einen friedlichen Aufenthalt auf dem Markt."
Selena nickte lächelnd, bevor die Fliege verschwand.
„Ich würde dir ja auch danken, Selena", krächzte Grerr. „Wenn du dich nicht mit der nordischen Totengöttin und Tochter Lokis persönlich angelegt hättest."
Selena hob die Augenbraue und schaute zu dem Mädchen hinab, das ihr einen hasserfüllten Blick zu warf.
„Du bist die Tochter von Loki?" Selena stemmte erstaunt die Hände in die Hüften.
„Mein Name ist HEL! NICHT Tochter von Loki", giftete sie und setzte sich mühsam auf. „Und was ist das für eine scheiß Kette!?"
Sie wollte das Amulett anfassen, doch da fuhr ein Schlag durch ihren Körper, der sie wieder in die Embryonalstellung zurückwarf.
Selena ging vor Hel in die Hocke und grinste. „Nettes kleines Spielzeug, nicht wahr?"
Hel murrte einen Fluch und Selena neigte leicht den Kopf. „Ich habe das von der Hexe von OZ als Geschenk bekommen. Es blockiert jede Art von Magie. Ich wette, du hast noch nie zuvor so eine coole Halskette getragen, oder?"
„Ich hasse dich."
Selena lachte und erhob sich wieder. „Ach komm, wir haben uns doch erst kennen gelernt, gib uns noch etwas Zeit und du wirst feststellen, dass ich eigentlich ganz nett bin."

Die drei Mythengetiere Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt