„HEL!"
Hel schreckte hoch und starrte direkt in zwei rote glühende Augen. Eine dunkle Schnauze war nah an ihrem Gesicht. Zu nah. Sie verzog das Gesicht und wedelte mit der Hand vor ihrer Nase.
„Uff, putz dir mal wieder die Zähne, Anubis!", maulte sie und schubste den Schakalgott von sich weg.
„HEL! Verdammt nochmal, steh auf!", knurrte Anubis, während er zurück taumelte. Er war fast doppelt so groß wie Hel und bepackt mit Muskeln. Sein roter Plüschmorgenmantel flatterte wild durch die Luft, als er wieder das Gleichgewicht fand.
Hel erhob sich in ihrem Bett und starrte den ägyptischen Totengott wütend an. „Was willst du? Und warum bist du in meinem Zimmer!? Wir hatten doch darüber geredet, dass ..."
Anubis rollte theatralisch mit seinen Augen und machte eine dieser Diva-Handbewegungen, die Hel absolut übertrieben fand.
„Hör auf zu maulen!", schnaubte er mit einem dramatischen Stöhnen, das in Hels Meinung total ungerechtfertigt war. „Es ist etwas passiert!"
Hel gab einen Seufzer von sich, der Freya sicherlich imponiert hätte.
„Anubis, in den Totenreichen passiert NIE etwas ... NIE!"
Nur um Anubis zu ärgern, rollte sie sehr theatralisch mit ihren Augen und imitierte einer seiner Diva-Bewegungen. Anubis knurrte wütend und packte ihre rosa Hello-Kitty-Bettdecke, während Rauchwolken aus seiner Schnauze traten. Hel jedoch zeigte keinerlei Anzeichen von Angst.
„Schätzchen, du strapazierst gerade meine kostbaren Nerven."
Mit einem Schnauben warf Anubis Hels Bettdecke durch den Raum und fletschte die Zähne. Hel musterte ihn unbeeindruckt und verschränkte die Arme vor der Brust wie ein trotziges Kind.
„Hast du deine Tage?", wollte sie wissen. Anubis rang mit seinen Händen.
„Manchmal würde ich dich am liebsten umbringen, Hel", knurrte er. „Du kleine nervige Kröte!"
Hel lachte auf. „Haha, guter Witz! Du willst die nordische Totengöttin umbringen? Oooooh bitte, Anubis. Als OB das ginge!"
„Wie ich sehe, hast du dich nicht verändert, Hel."
Hel fuhr erschrocken zusammen. Ihr Herz setzte beinahe aus, als sie sich zu der vertrauten dunklen Stimme umdrehte. Eine Stimme, die sie seit einer Ewigkeit (und das musste was heißen für eine unsterbliche Totengöttin) nicht mehr gehört hatte. Und die sie, wenn sie ganz ehrlich war, vermisst hatte.
Ungläubig starrte sie zu dem dunkelhaarigen jungen Mann, der im Türrahmen stand. Konnte es sein?
„Was ...? Wie ...?", stammelte sie, sprang aus dem Bett mit ihrem rosa Nachthemd, auf dem ein Einhorn ein Herz pupste, und griff nach ihrer Magie. Jedes Mal, wenn sie danach griff, fühlte es sich an, als würde ihr Blut gefrieren. Ein Schauder lief ihr über ihre weiße Haut und ihre Sinne schärften sich.
Hel hatte ihrem kitschigen, rosa Mädchenzimmer noch ein kleines totes Detail gegeben. Neben ihrer Tür standen zwei Skelette auf einem Podest mit gelb gepunkteten Tütüs und blonden lockigen Perücken. Sie waren wie Ballerinas aufgestellt, die in ihren Händen tödlich scharfe Säbel hielten.
Anubis hatte die Säbel total übertrieben und unpassend gefunden, aber eine Totengöttin wie Hel musste sich ja zu wehren wissen und sie konnte immerhin nicht einfach ihre Angreifer verschlingen wie dieser Schakalkopf.
Die Ballerina-Skelette regten sich, sobald Hel schnippte. Ihre Köpfe hoben sich und grüne Feuerbälle erschienen in ihren Augenhöhlen. Hel ließ sie von dem Podest herunterspringen.
Der junge Mann hob eine Augenbraue, schien sich aber nicht von den Skelette zu beunruhigen zu lassen, die gerade ihre Säbel auf ihn richteten.
Hinter ihr stöhnte Anubis auf und murmelte etwas von. „Und die Kleine findet, dass ICH überreagiere? Pff!"
„Ernsthaft, Hel? Begrüßt man so einen alten Freund?", erkundigte sich der junge Mann und lächelte sie an. Ihr Herz machte einen Satz. Immer wenn er sie anlächelte, hatte sie ihr verdammtes Herz nicht unter Kontrolle.
„Hel, sei nicht so eine Dramaqueen", meinte Anubis, trat neben sie und deutete auf den Mann. „Das ist Hades. Der attraktive griechische Totengott? Er ist zurück!"
Hel warf Anubis einen entnervten Blick zu. „DAS sehe ich auch, du Schlaumeier. Aber ..." Hels Blick glitt zurück zu Hades, der lässig im Türrahmen lehnte und die beiden beobachtete. „... aber kann es wirklich sein? Ich meine, wo ist Persephone?"
Hades war nie ohne Persephone unterwegs. Die beiden waren quasi unzertrennlich auf eine ekelige romantische Art.
Hades seufzte und stieß sich vom Türrahmen ab. „Das ist der Grund, warum ich hier bin, Hel. Ich brauche eure Hilfe."
Hel erschuf ein giftgrünes Magiefeuer mit einem weiteren Schnipser und die Augenhöhlen der Skelette leuchteten ebenso grün auf. Sie warf das Feuer auf Hades, der eine Hand hob und mit einem Fuß auf den Boden stampfte, worauf das Magiefeuer von Hel an einem unsichtbaren Schild zerplatzte.
Hel verengte die Augen und erschuf ein neues Magiefeuer.
„Hel, langsam nervt dein Misstrauen", erklärte Hades mürrisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Glaube mir, ich wollte auch nicht einfach so bei euch reinplatzen, aber ... aber es ist etwas passiert ... und ich hatte keine andere Wahl."
Hel musterte ihn skeptisch. Anubis seufzte neben ihr und stemmte eine Hand in die Hüfte.
„Wie wäre es, wenn wir das alles bei einem Tässchen Tee und Frühstück bereden?", meinte er und klatschte in die Hände. Hel wollte protestieren, doch innerhalb eines Blinzeln saß sie angezogen am Küchentisch.
Vor ihr stand ein heißer, frischer Kaffee in ihrer Lieblingstasse mit der Karikatur einer Herzchen-pupsenden Katze. Ihr gegenüber saß Hades mit einem Tee und Anubis stellte gerade einen Teller mit frischen Waffeln auf den Tisch. Er trug eine kitschige Schürze, auf der stand: Wer den Koch küsst, bekommt ein heißes, sexy Dessert!
„So, jetzt können wir wie zivilisierte Todesgötter reden", meinte Anubis zufrieden und setzte sich rechts neben Hel an den kleinen Küchentisch. Der Stuhl links neben ihr blieb frei. Dort hatte Persephone stets gesessen, bevor Hades und sie ausgezogen waren.
Hel verengte die Augen und deutete auf Anubis, der ein Bein über das andere schlug. „Ich hasse es, wenn du das machst."
„Ich auch", murrte Hades und warf Hel ein leichtes Lächeln zu. Hel wich seinem Blick aus. Verdammt, sie hatte ihn wirklich vermisst, aber sie war auch noch zu verletzt, dass Persephone und er sie verlassen hatten, um ihm das zu sagen oder zeigen.
„Also", begann Anubis aufgeregt und wandte sich an Hades. „Erzähl uns ALLES, Hades-Liebling. Hel und ich haben Persephone und dich nämlich sehr vermisst, musst du wissen."
„Sprich für dich, Schnauzengesicht", brummte Hel und schüttete fünf Löffel Zucker in ihren schwarzen Kaffee. Anubis warf ihr einen kurzen Blick zu und seine Ohren zuckten leicht.
„Ignorier das trotzige Kind hier", wandte sich Anubis wieder an Hades. „Erzäääähl uns alles!"
Hades legte seine Hände um die Teetasse und starrte hinein. Sein Gesicht wurde ernst und traurig.
„Nun, es ist wirklich seltsam, weil ... ich kann mich an vieles nicht mehr erinnern. Ich weiß aber, dass Persephone und ich gerade auf den Weg waren zum Land der griechischen Mythologie, als ...", Hades seufzte und zuckte mit den Schultern, „... als irgendwie alles schwarz wurde und dann bin ich aufgewacht in einem Anwesen, das Olymp genannt wurde und war der Thronfolger dort." Hades schüttelte den Kopf. „Es war so verwirrend, weil ich war überzeugt, dass ich nun ein Mensch bin und meine Brüder Zeus und Poseidon waren auch da. Wir waren alle ... menschlich. Keiner hatte seine Götterkräfte und wir wussten auch nicht, dass wir alle aus der griechischen Mythologie stammen ... niemand wusste es."
„Oh bei Horus' Spatzenhirn!", entfuhr es Anubis und er legte sich eine Hand an die Brust. „Das klingt ja furchtbar ... wirklich niemand wusste, dass ihr Götter seid?"
Hades schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen. „Nein, ich ... niemand. Wir haben uns verhalten wie Menschen."
„Iiiihhgit", kommentierte Hel und verzog das Gesicht. Anubis stützte seine Schnauze in seine Hände.
„Was ist dann passiert, Hades-Liebling? Wie hast du dann hier zurückgefunden?"
„Ich ... ich bin gestorben."
Anubis und Hel starrten ihn einen Moment ungläubig an.
„Was?", hakte Hel nach und konnte ein Kichern nicht unterdrücken. „Verarsch uns hier nicht, Hades. Das ist absolut absurd und unmöglich."
Hades' Miene verdunkelte sich. „Ich kann dir sagen, dass es nicht gerade lustig ist, zu sterben ... ich erinnere mich auch nur noch, wie ich von dem Minotaurus gejagt zu werden."
„Was? Mino hat dich gejagt?!", rief Anubis aus und wich schockiert zurück. Er verhielt sich, als würde er auf einer Theaterbühne ein Drama inszenieren, und Hel nervte das bis in ihre kalten Knochen.
„Das ist ja furchtbar! Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, war er zum Vegetarier geworden und hat täglich meditiert", plapperte Anubis weiter und schüttelte den Kopf.
Hades musterte ihn neugierig. „Mino? So nennst du den Minotaurus?"
Anubis winkte ab. „Ja, das ist mein Spitzname für ihn. Wir zwei hatten nämlich mal einen Wochenendflirt ..." Ein Grinsen entblößte eine Reihe messerscharfer Zähne. „... als er noch wilder war, wenn ihr versteht, was ich meine."
Er zwinkerte Hades und Hel zu. „Hui, dieser Stier hatte eine Ausdauer ..."
„Bah!", stieß Hel hervor und schlug Anubis gegen die Schulter. „Behalte deine dreckigen Sexabenteuer für dich, Schnauzengesicht! Das will KEINER hören oder sich ... vorstellen."
Anubis kicherte wie ein Mädchen, als Hades seufzte. „Können wir wieder zu ernsteren Themen zurückkommen, bitte?"
„Meine Güte, ihr zwei seid so stocksteif manchmal", meinte Anubis und er vollführte wieder sein berühmtes theatralisches Augenrollen. „Es wird Zeit, dass Persephone zurückkommt. Die hat meine dreckigen Geschichten immer zu schätzen gewusst."
Hades' Mund klappte überrascht auf und Anubis lachte darüber, was mehr wie das Kichern einer Hyäne klang.
„Apropos Persephone", hakte Hel ein und schaute von Anubis zu Hades. „Wo ist sie?"
„Sie ist immer noch im Land der griechischen Mythologie, aber sie kann sich nicht erinnern, dass sie eine Totengöttin ist. Sie ist als Mensch dort gefangen und denkt, dass ich ... tot bin."
„Das heißt, du konntest dich erst erinnern, wer du bist, als du gestorben bist?", fragte Hel weiter, gepackt von einer plötzlichen Neugierde.
Hades nickte.
„Und warum gehst du nicht zurück und erklärst Persephone alles?"
„Ich kann nicht", gestand Hades. „Ich habe es versucht. Ich habe ALLES versucht, aber niemand ist mehr in der Unterwelt. Cerberus, Hekate und Charon sind alle im Land der griechischen Mythologie und denken sie sind Menschen! Ich erreiche niemanden ... ich bin hier unten gefangen wie all die anderen Toten."
Anubis lehnte sich vor und legte eine seiner Pranken auf Hades' Hand. „Es ist okay, Hades, wir werden einen Weg finden, Persephone zurückzuholen."
„WIR?", wandte sich Hel an Anubis, der seinen großen Schakalkopf zu ihr drehte. Seine roten Augen glühten und er fletschte die Zähne.
„Ja, Hel, WIR werden ihm helfen. Denn wir Totengötter halten zusammen."
Hel hob beschwichtigend die Hände. „Woah, spar dir deinen Todesblick bei mir, weil der funktioniert nicht. Und ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum wir auf einmal auf Zusammenhalt tun, wenn Hades und Persephone sich entschlossen hatten, UNS zu verlassen!?"
Ungewollt war Hels Stimme lauter geworden und alte Wut kam hoch.
Hades wirkte sichtlich getroffen. „Hel ... du weißt, dass das nicht stimmt. Wir hatten unsere Gründe ..."
„Ich scheiß auf eure Gründe!", schrie Hel mit Tränen in den Augen und erhob sich so energisch, dass ihr Stuhl nach Hinten kippte. „IHR habt uns damals einfach verlassen ... ihr seid abgehauen! Deswegen glaube ja nicht, dass ICH jetzt so tun werde, als wäre alles wieder gut."
Damit drehte Hel sich um und stürmte aus der Küche. Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie das kleine Haus verließ und in ihr nordisches Totenreich flüchtete. Ein wenig schämte sie sich, dass sie so ausgerastet war. Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Bei Odin, jetzt heulte sie hier rum wie ein kleines Mädchen. Wie peinlich!
Hel versuchte gleichmäßig zu atmen und zapfte ihre Magie an. Sie schnippte und erschuf eine Illusion von ihrem Gesicht, das frisch und unverheult drein blickte. Diese legte sie sich wie eine kühle Maske über ihr echtes Gesicht. Sie schloss die Augen und genoß das kribbelnde Gefühl von ihrer Magie auf ihrer Haut. Es fühlte sich an wie feiner Pulverschnee.
Sie spürte seine Präsenz, bevor sie seine donnernde Stimme hörte.
„Nichte!", dröhnte es hinter ihr und Hel drehte sich um.
„Onkel Thor", grüßte sie ihn und grinste. Der Donnergott schwebte über ihr. Sein Hammer in der Hand, sein blondes Haar offen und sein Bart in mehreren Zöpfen geflochten. Seine blauen Augen blitzten schalkhaft auf.
Auch wenn er nicht wirklich ihr Onkel war, nannte sie ihn so. Immerhin bezeichnete Thor ihren Vater Loki auch als Bruder, daher sah er Hel auch als seine Nichte an.
„Was verschafft mir die Ehre deiner perfekt blonden Haare?", erkundigte Hel sich und war froh, dass sie ihre Gesichtsillusion trug. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war einen überfürsorglichen Onkel, der sich sofort aufmachen würde, um den Grund ihrer Tränen mit seinem Hammer kurz und klein zu schlagen.
Nicht, dass sie diese Geste nicht zu schätzen wüsste, aber sie hatte dann immer den Stress danach, wenn der Tote sich bei ihr über einen hitzköpfigen Mann mit einem Hammer beschwerte.
Thor lachte und es klang wie Donner, während er vor ihr auf den Boden trat. „Es gibt eine Versammlung in Asgard und, weil meine Lieblingsnichte nicht auf die Raben antwortet, bin ich persönlich hergekommen, um dich zu holen."
Hel hob die Augenbrauen. „Onkel Thor, ich hab dir doch schon oft genug gesagt, dass die Raben hier nicht ankommen, wenn sie LEBENDIG sind."
Sie liebte ihren Onkel, aber er war nicht der Schlauste unter den Göttern. Thor musterte sie eine Weile und runzelte die Stirn, während er zu erfassen versuchte, was sie ihm gerade gesagt hatte. Hel seufzte leise und wartete, bis sein kleines Gehirn ihre Worte verarbeitet hatte.
„Hmm, stimmt", erwiderte er schließlich und fuhr sich über seinen langen Bart. „Das bedeutet, ich muss das nächste Mal den Raben totschlagen?"
„Eh ..."
Thor winkte ab. „Ach, das kannst du mir auch später nochmal erklären, Nichte." Er schlang seinen Arm um ihre Hüfte und hob sie ohne Anstrengung hoch.
„WHOA! HEY!", rief Hel und begann zu strampeln, aber Thor störte das nicht im Geringsten. Er hob seinen Hammer und ein Blitz schlug darin ein. Der Lärm war ohrenbetäubend und Hel schrie auf.
„THOR, DU MISTKERL VON EINEM ONKEL!", kreischte sie, als er mit ihr unter dem Arm los flog. Sie hasste es, wenn er das tat. Nicht nur, weil sie Höhenangst hatte, sondern weil er absolut keine Rücksicht auf sie nahm, während er mit seinem Hammer herum flog.
Thor lachte vergnügt, während Hel sich an ihn klammerte und die Augen verbissen geschlossen ließ. Wind zerrte an ihren Haaren und ihrer Kleidung.
„Es wurde ein Notstand in der nordischen Mythologie ausgerufen", hörte sie seine Stimme klar und deutlich, als würden sie ein ganz normales Gespräch bei Kaffee und Kuchen führen, während um ihnen ein Sturm tobte.
„Angeblich hat die griechische Mythologie etwas damit zu tun", fuhr Thor fort und seine sonst so belustigte Stimme klang ernst. „Ich hab diese Griechen noch nie leiden können. Alle eingebildete und verweichlichte Götter, die keine Ehre kennen."
Hel dachte an das, was Hades erzählt hatte und ein ganz ungutes Gefühl ließ ihren Magen zusammenfahren. Das hieß nichts Gutes ... oder war ihr einfach nur schlecht von Thors schlechten Flugkünsten?
Sie würgte, als Thor einen Haken schlug und ihr Magen gegen seine stahlharten Muskeln gedrückt wurde. Hastig konzentrierte sie sich darauf, sich nicht zu übergeben. Sie konnte sich später noch Gedanken machen, was das alles bedeutete. Jetzt wollte sie erstmal verhindern, dass sie ihren Onkel ankotzte.
– – –
Asgard erstrahlte in den buntesten Farben, die Hel jemals gesehen hatte. Jedes Mal, wenn sie in die Stadt kam, blieb ihr der Atem weg. Das Totenreich war nicht mal ansatzweise zu vergleichen mit der Pracht und den Reichtum, den Asgard besaß. Ganz im Gegenteil wirkte das Totenreich jedes Mal noch farbloser, langweiliger und freudloser, wenn Hel Asgard besuchte.
Ihr Magen zog sich zusammen und Anspannung packte ihren Körper. Ihre Magie pulsierte durch ihre Adern, während sie Thor in den prunkvollen Odins Saal folgte. Ein gewaltiges Buffet mit all den Speisen und Getränken, die man sich nur vorstellen konnte, stand in der Mitte des Saals. Götter, Fabelwesen, hässliche Kreaturen und andere nordische Gestalten tummelten sich in dem Saal. Hel fühlte sich augenblicklich eingeschüchtert.
Hier in Asgard wirkte alles so wuselig ... so lebendig. In diesem Moment wurde ihr nur noch mehr bewusst, wie alleine sie eigentlich war. Man hatte sie abgeschoben ins Totenreich für die Drecksarbeit, während die anderen Götter hier ihre Partys abhalten konnten.
Hel presste die Lippen aufeinander, um nicht laut zu meckern, während Wut durch ihre Adern pulsierte. Sie ballte die Hände zu Fäusten und biss sich heftig in die Innenseite der Wange, um nicht ihre Magie freizulassen und wie Anubis es ausdrücken würde ein „Teenager Drama des Jahrhunderts" loszulassen.
Auch wenn Hel es in den Fingerspitzen kitzelte, wusste sie, dass sie damit garantiert Odins Aufmerksamkeit erregen würde und das wollte sie um jeden Preis verhindern. Das wollte jeder verhindern, wenn ihm sein Leben lieb war. Der Göttervater war nicht bekannt für seine Gnade und Gutherzigkeit.
Bis auf Thor, für den Odin eine offensichtliche Schwachstelle hatte, und Loki, Hels Vater, gab es kaum jemanden, der Odins Gesellschaft suchte oder ertrug.
Hels Blick schweifte zum Thron am Ende des Saals und sie entdeckte ihren Vater, der wie zu erwarten um den Göttervater herumschwirrte wie eine häßliche Motte um das Licht. Während sie ihren Vater beobachtete, der lachte und trank, überkam sie erneut eine unbändige Wut.
„Onkel Thor, ich hole mir mal einen Wein. Ich muss deine schrecklichen Flugkünste irgendwie vergessen", wandte sich Hel an Thor und versuchte so unbedarft wie möglich zu wirken.
Thor hielt an und blickte grinsend zu ihr hinab. „Tu das, Nichte, aber dann komm schnell zu mir zurück. Ich möchte all deine langweiligen Geschichten aus dem Totenreich hören."
Hel konnte ihre Überraschung nicht verbergen. „Oh wirklich?"
Thor lachte donnernd und tätschelte ihr die Schulter mit seiner großen Hand. Hel verzog schmerzhaft das Gesicht.
„Natürlich, Nichte, weil zu hören wie deprimierend es da unten ist, macht mein Leben hier oben noch viel unterhaltsamer."
Damit lief er weiter zu seinem Vater Odin, der auf seinem Thron saß und grimmig drein blickte. Hel starrte ihm nach, während sie mit Schmerz und Wut kämpfte.
ER IST ES NICHT WERT, HEL, drang eine Stimme in ihren Kopf. Die Stimme war tief und dunkel, dennoch vertraut wie eine alte Heimat.
Hel lächelte und drehte sich um, suchend nach dem Besitzer der Stimme, dem großen Fenris Wolf. Hel entdeckte den Wolf in der Ecke des Raumes. Er lag auf dem hellen Boden und schaute direkt zu ihr hinüber. Seine gelben Augen fixierten sie. Er war wieder ein ganzen Stück gewachsen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Der Wolf nahm fast die gesamte hintere Hälfte des Saals ein.
„Bei Odin, du wirst auch immer fetter", murmelte Hel mit einem Grinsen und wusste, dass der Wolf sie hören konnte.
HÖR AUF ZU STARREN UND KOMM RÜBER. ICH VERSPRECHE, ICH WERDE DICH NICHT FRESSEN, hörte sie die amüsierte Stimme in ihrem Kopf, als sie zu dem Wolf hinüber ging. UND DAS SIND MUSKELN, KEIN FETT.
Sein Kopf war so groß wie sie und seine Krallen glänzten im Deckenlicht. Hel jedoch hatte keine Angst vor ihm. Sie streckte ihre Hand aus und berührte die weiche Schnauze.
„Es ist lange her, Bruder", flüsterte sie lächelnd. Fenris nickte und fletschte die Zähne, was ein breites Grinsen sein sollte.
Hel stellte sich neben Fenris' Kopf und schaute zu Odin hinüber. Thor stand neben ihm und erzählte wohl gerade eine seiner unzähligen Kriegsgeschichten, den er schwang demonstrativ seinen Hammer. Hel rollte die Augen, bevor ihr Blick zu Büffet zurück glitt. Sie hob eine Hand und schnipste.
Eine Skeletthand schoss aus dem Tisch und griff nach einem Weinglas. Jemand schrie erschrocken auf und einige Gäste wichen panisch zurück. Hel lachte leise, während ihre Magie über den Boden wogte und die Skeletthand mit dem Weinglas zu ihr zurück krabbelte ohne etwas von dem kostbaren Wein zu verschütten. Geflüster wurde laut und neugierige Augen folgten der Hand. Hel genoß die Aufmerksamkeit.
„Weißt du, warum wir alle hier versammelt sind und so tun, als verstehen wir uns?", wollte Hel wissen. Fenris schnaubte.
ICH HABE GEHÖRT, DASS EIN FLUCH ÜBER DER GRIECHISCHEN MYTHOLOGIE LIEGT UND DIE NORDISCHEN GÖTTER HABEN ANGST, DASS ER SICH VERBREITEN KÖNNTE, erklang die dunkle Stimme des Wolfes in ihrem Kopf.
Hel verschränkte die Arme vor der Brust und musterte all die Götter. Sie tranken, redeten und erfreuten sich ihres Lebens. Allerdings wusste Hel auch, dass das alles nur Fassade und Schauspiel war. Auf einigen Gesichtern erhaschte sie sorgenvolle Blicke und sie konnte ängstliches Geflüster hören. Ein Kratzen erregte ihre Aufmerksamkeit und sie schaute hinab auf die Skeletthand, die das Weinglas neben ihr abgestellt hatte. Hel grinste breit.
„Was für eine brave Hand!", gurrte sie und tätschelte die Skeletthand liebevoll. Das Handgelenk wackelte wie ein Schwanz und die Hand sprang erfreut hoch. Hel schnipste erneut und die Skeletthand verpuffte. Rasch nahm sie ihr Weinglas und nahm einen Schluck von dem süßlichen Wein.
„Diese Idioten haben nur Angst, dass ihr Gesaufe und Gehure aufhören könnte", raunte Hel Fenris zu.
IST DAS EIFERSUCHT, SCHWESTER?
Hel antwortete nicht, sondern nippte an ihrem Wein.
EIFERSUCHT IST EIN GEFÄHRLICHES SPIEL, BEI DEM MAN SICH LEICHT VERBRENNT.
Hel rollte mit den Augen. „Fenris, lass mal deine Weisheiten stecken. Auch, wenn du so riesig bist, bist du immer noch mein Babybruder."
Ein dunkles Grollen drang aus Fenris' Kehle. Hel kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er lachte.
ICH WOLLTE DAMIT NUR SAGEN, DASS DU NICHT AUF DIESE HEUCHLER EIFERSÜCHTIG SEIN MUSST. SIE SIND ES NICHT WERT.
Hel warf Fenris einen mürrischen Blick zu, seufzte aber dann. Sie würde es niemals zugeben, aber sie wusste, dass er Recht hatte. Sie war eifersüchtig auf die Götter. Sie war eifersüchtig auf ein Leben, das ihr verwehrt geblieben ist. Sie war eifersüchtig, dass sie eine große Familie waren, während sie alleine im Totenreich saß und niemand sie jemals besuchte ... außer Thor.
Fenris' feuchte Nase stupste sie an der Wange. Hel schreckte aus den Gedanken und verzog das Gesicht.
„Iiihgit!", maulte sie und Fenris leckte ihr über das Gesicht. „Was zur Hölle! Spinnst du!"
Fenris grollte amüsiert und legte dann seinen großen Kopf nah neben sie. Seine Ohren zuckten leicht und sein Fell drückte sich warm an ihren Körper. Hel seufzte genervt, musste aber lächeln.
„Idiot", murmelte sie und begann ihn zu kraulen. Fenris schnaubte zufrieden.
„Meine Kinder", dröhnte Odins Stimme durch den Saal und augenblicklich kehrte Stille ein. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf Odin, den Göttervater, der sich von seinem Thron erhob. Er schaute mit grimmiger Miene zu seinen „Kindern". Seine Falten zogen sich wie tiefe Furchen durch sein strenges Gesicht und erzählten Geschichten, die bereits zu Legenden geworden waren.
„Wie ihr sicherlich schon mitbekommen habt, liegt ein Fluch über der griechischen Mythologie. Was wir bis jetzt wissen ist, dass dieser Fluch allen Göttern, Wesen und Kreaturen sämtliche Magie entzieht."
Erschrockenes Raunen brach durch den Saal wie eine Welle, bevor Odin mit einer Handbewegung dieses wieder zu Schweigen brachte.
„Bis jetzt sieht es nicht so aus, als würde sich der Fluch verbreiten, doch der Märchenrat hat beschlossen dem ganzen näher auf den Grund zu gehen. Sie haben eine ihrer Kreaturen losgeschickt ..."
„Was, wenn sie den Fluch gegen uns verwenden?", schrie jemand aus der Menge. „Wir können diesem Märchengesocks nicht trauen!", erklang eine weitere Stimme. Kurz darauf stimmte die Menge grölend mit ein. Odin ließ den Unmut eine Weile durch den Saal donnern, bevor er erneut Ruhe verlangte.
„Diese Gedanken und Sorgen sind nicht ganz unbegründet. Die Märchen- und Mythenwelt hat so ihre Unstimmigkeiten und Rivalitäten in der Vergangenheit gehabt." Odin ließ die Worte sacken und bedachte seine Kinder mit einem strengen Blick.
„Bei Ragnarok! Muss der immer so dramatische Pausen machen", murrte Hel und schüttelte den Kopf. Fenris grummelte amüsiert.
„Deswegen habe ich beschlossen, dass wir auch jemanden los schicken. Einen Freiwilligen, der heraus finden soll, ob uns Gefahr droht und gegebenenfalls diese Märchenkreatur aufhält."
Stille.
Hel hätte beinahe laut auf gelacht, als Totenstille den Saal überkam und zu einem feigen Schweigen wurde. Offensichtlich wollte sich niemand freiwillig melden. Niemand wollte das gemütliche Asgard verlassen und zu einem verfluchten Ort gehen.
Auf einmal hob Fenris den Kopf und sein Knurren ließ den Saal erzittern mit den ungesagten Worten:
HEL, DIE TOTENGÖTTIN, MELDET SICH FREIWILLIG, O GÖTTERVATER.
Hel starrte Fenris fassungslos an. Sie war unfähig irgendetwas zu sagen, als alle Aufmerksamkeit mit einem Schlag auf sie fiel. Thor warf seinen Hammer in die Luft mit einem triumphierenden Lachen.
„Dein Mut wird Legende machen, Nichte!", donnerte er durch den Saal. Hel schluckte schwer und ballte die Hände zu Fäusten, während Odins Blick sie durchbohrte. Obwohl er am anderen Ende des Saals stand, spürte sie, wie sein Blick ihr direkt in die Seele schaute. Sein kaltes blaue Auge nagelten sie fest und sie bekam Atemnot. Vielleicht war es aber auch, weil sie mit einer Panikattacke kämpfte.
„Stimmt das, Hel, Tochter von Loki?", wollte Odin wissen. Seine Stimme schlang sich um ihr Herz, das sich wie ein Presslufthammer in ihrer Brust anfühlte. Was sollte sie jetzt tun? Laut sagen, dass ihr Bruder den Verstand verloren hatte?
DAS IST DEINE CHANCE ZU BEWEISEN, DASS DU MEHR BIST ALS NUR DIE TOCHTER LOKIS, summte Fenris' Stimme in ihrem Kopf und traf sie damit direkt in ihrer Seele. Ja, es war eine Chance endlich aus dem Schatten ihres Vaters hinauszutreten und sich zu beweisen, dass sie all den Göttern hier ebenbürtig war. Doch alles, was Hel dazu jetzt nur denken konnte war:
Ach du Scheiße, aus der Sache komme ich jetzt nicht mehr raus.
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Die drei Mythengetiere
AdventureScheiß auf: Einer für alle! Wenn die vereinigten Länder der Mythen und Märchen von einem Fluch heimgesucht werden, machen sich drei Helden auf den Weg, den Fluch zu brechen und ihre Welt zu retten. Naja, nicht Helden. Sagen wir ein Ex-Sträfling, ei...