Großmutter, Großmutter, warum rauchst du eine Zigarre?

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Selena schaute sich in der Gasse hinter dem Pub um. Es war ruhig und kühl. Die Sonne reichte nicht bis hier herunter und ein paar Ratten huschten über den Asphalt. Der Gestank von Müll und altem Schweiß stieg Selena in die Nase und sie verzog angewidert das Gesicht.
„Uff, vielleicht hätte ich doch drinnen mit ihr reden sollen", murrte Selena und schüttelte sich kurz. Sie versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren,  aber es war schwer. Sie war beinahe dankbar, als die rostige Tür neben ihr knarrte. Jakob schwang die Tür weit auf und hätte beinahe Selena erwischt, wenn sie nicht zur Seite gewichen wäre. Sie warf Jakob einen mürrischen Blick zu.
„Knapp verfehlt, Idiot", meinte Selena und Jakob schnaubte.
„Wenn es nach mir ginge, dann würde ich dir hier und jetzt den Kopf abbeißen und deinen Körper in der Gasse verrotten lassen."
„Beim heiligen Mond, du bist wirklich nachtragend."
Jakob knurrte. Es kam tief aus seiner Kehle und weckte Selenas Wolfsinstinkte. Sie merkte, wie ihr Köper sich anspannte und sie ihn anspringen wollte. Sie wollte sein Blut schmecken.
Selenas Augen ruhten auf Jakobs Gesicht, das nur darauf wartete, dass sie einen Fehler machen würde. Sie musste ihm nur eine klitzekleine Gelegenheit geben, damit er sie angriff. Nicht, dass sie Angst hätte, gegen ihn zu kämpfen. Sie hatte schon mal das Vergnügen gehabt gegen diesen Angeber die Krallen zu wetzen und er hatte verloren. Es war knapp gewesen, denn Jakob war ein verdammt erfahrener und ziemlich wuchtiger Wolf, aber Selena war schlauer. Das war sie meistens. Und wie heißt es doch so schön: Der Schlauere gibt nach.
Selena lächelte und entspannte ihren Körper. Äußerlich mochte sie nun lässig und cool wirken, aber innerlich war sie wachsam.
„Ach komm, Jakob, entspann dich", sagte sie mit Unschuldsmiene. „Du weißt doch, dass ich nicht wegen dir hier bin."
Jakob schnaubte erneut und trat dann zur Seite. Er positionierte sich gegenüber Selena und behielt sie somit genau im Auge, während Großmutter endlich aus der Tür trat. Sie zündete sich ihre Zigarre an und paffte dicke Rauchwolken in die Luft.
„Wow, du rauchst immer noch diese fetten Dinger?", kommentierte Selena und nickte zu der Zigarre.
Großmutters listige Augen bewegten sich zu Selena. „Also, was willst du von meiner Enkelin?", fragte sie und umhüllte sich mit Zigarrenrauch. „Ich meine, hat sie dir nicht schon genug Leid angetan?"
„Deine Sorge um mich schmeichelt mich, Großmutter, aber ..."
„Du weißt, dass du nichts gegen sie in der Hand hast und du wirst niemals deine Rache bekommen, Selena. Sie kennte jeden und ihre Finger sind tief in die Geschehnisse der Märchenwelt verwickelt. Egal, was du vorhast, es wird nur schlecht auf dich zurück fallen." Großmutter seufzte laut und lange, bevor sie erneut an ihrer Zigarre zog. „Wenn du meinen Rat willst, dann vergiss deine Rache und leb dein Leben."
„Bist du fertig mit der Belehrung?", wollte Selena unbeeindruckt wissen. Großmutter musterte Selena eine Weile ohne, dass Selena wusste, was sie dachte. Aber das hatte sie noch nie gewusst. Wenn jemand noch mysteriöser war als Selena, dann war es Großmutter.
„Jakob", wandte sich Großmutter an Jakob. „Hol mir doch bitte meine Wolldecke. Hier ist ein bisschen kühl."
„Aber...", begann Jakob und sein Blick zuckte zu Selena. Es war klar, dass er Großmutter auf gar keinen Fall mit ihr alleine lassen wollte.
„Nichts aber." Großmutters Stimme war gebieterisch und hatte diesen typischen Unterton, der einen warnte nicht zu widersprechen. Zu Selenas Überraschung gehorchte Jakob und verschwand, nachdem er Selena nochmal warnend anknurrte. Sobald der Sonnenwolf verschwunden war, drehte sich Selena zu Großmutter. Sie deutete durch die Tür, während sie fragte: „Wie kriegst du das hin, dass der so gehörig ist?"
Großmutter schmunzelte und zwinkerte ihr gewitzt zu. „Ich hab meine Methoden, wie du weißt."
Selena merkte, wie sie lächeln musste. Als Großmutters Hand auf ihrer Schulter landete, fokussierte sie sich wieder auf die alte Frau. Ihr Gesicht war verzerrt von Schuld und Mitgefühl. Ihre Falten wirkten auf einmal viel tiefer.
„Selena, es tut mir weh, was mit dir passiert ist. Hätte ich gewusst, dass Rot so ... dass meine eigene Enkeltochter so ein ..."
„Monster?", dachte Selena, wagte es aber nicht auszusprechen.
„... eine Schwindlerin ist, dann hätte ich euch nie bekannt gemacht."
„Es ist nicht deine Schuld."
Großmutter verdrehte die Augen und paffte an ihrer Zigarre, während sie Selena neckisch in die Schulter stieß. „Hör auf, Kindchen, oder ich fange noch an zu glauben, dass ein mitfühlendes Herz hinter all der unnahbaren Fassade steckt."
„Hey, sag das nicht so laut!", warnte Selena mit gespielter Empörung. „Ansonsten ruinierst du noch meinen Ruf als großer, böser Wolf."
Großmutter schmunzelte und für eine Weile standen die beiden nur schweigend nebeneinander. Sie genossen den kleinen gestohlenen Moment miteinander. Selena erinnerte sich an die Zeit, die sie hier bei Großmutter verbracht hatte. Als sie damals von ihrem Rudel abgehaut war, hatte sie sie aufgenommen und ihr eine Richtung gegeben. Eine ziemlich kriminelle und halsbrecherische Richtung, die ihr einige Narben, Schmerz und Nahtoderfahrungen bescherrt hatten, aber Selena wollte jetzt mal nicht kleinlich sein. Sie verdankte der alten Frau einiges, aber dennoch verspürte Selena Unmut und Wut. Denn damals bei der Gerichtsverhandlung hatte Großmutter sich geweigert auszusagen. Sie wollte nicht gegen ihre eigene Enkeltochter aussagen und hatte damit Selena ins Gefängnis geschickt. Also eigentlich war sie definitiv Mitschuld an Selenas Schicksal, aber wenn Selena sie so ansah, dann war die gute Frau nur noch einen Herzinfarkt vom Grab entfernt.
„Ich glaube, dass Rot mich umbringen will", flüsterte Selena schließlich. Herzinfarkt hin oder her, Selena brauchte Antworten. Großmutter hielt inne mit ihrer Zigarre und suchte Selenas Blick. „Bist du dir sicher?"
Selena hob eine Augenbraue. „Naja, Elphaba hat mich direkt zu Schnee und Rosenrot geschickt, die mir gleich an die Gurgel wollten und mir gesagt haben, dass sie beauftragt wurden, mich zu beseitigen. Also ich würde daher schon sagen, dass man behaupten kann, dass ich mir sehr sicher bin."
„Und sie haben dir gesagt, dass es meine Enkelin war?"
„Naja ..." Selena erinnerte sich, wie Hel und Kit ihr Verhör unterbrochen hatten. „... es gab ein paar Komplikationen."
„Verstehe", seufzte Großmutter und warf den Stummel ihrer Zigarre auf den Boden, bevor sie diesen mit ihrem Schuh zerdrückte.
„Sie war hier vor ein paar Tagen", sagte Großmutter leise und wagte nicht Selena anzuschauen.
„Warum?", drängte Selena.
„Sie hat sich erkundigt, ob du bereits zu mir gekommen bist."
Selena wurde kalt ums Herz und ihr Magen zog sich zusammen. Auch wenn Selena es sich nicht eingestehen wollte, aber sie hatte Angst Rotkäppchen wiederzusehen. Zu wissen, dass sie vor ein paar Tagen erst hier gewesen war, versetzte Selena in Panik.
„Wo ist sie jetzt?"
Großmutter schlang ihre Arme um ihren Körper und schaute Selena immer noch nicht an. Selena bemerkte die Tränen in ihren Augen und wie Großmutter auf einmal mit sich rang. Das machte Selena nur noch nervöser.
„WOHIN ist sie gegangen, Großmutter!?" Selena packte sie am Arm und zwang sie sich anzusehen. „WOHIN!?"
„Ich wollte es ihr nicht sagen, aber du kennst Rot, sie ...", stammelte Großmutter und kämpfte mit Tränen. Auf einmal wurde Selena schlecht als eine Vermutung in ihr aufkam. Sie hoffte, dass sie falsch lag.

Gretel musterte die Handschellen, mit denen sie an den Ofen gefesselt war. Es war brutal warm und sie hatte bereits ihre komplette Kleidung durchgeschwitzt. Sie versuchte ihre Fingerspitzen aneinander zu legen, aber sie schaffte es nicht. Die Handschellen waren um eines der Rohre gelegt und trennten ihre Hände von einander mit einer der vielen Ofenwände. Rotkäppchen musste wissen, dass Gretel ihre Magie nur freisetzen kann, wenn sie alle ihre Fingerspitzen aneinander legte und auf dem linken Bein stand.
Gretel schnaubte genervt. Manchmal war es doch wirklich nervig, dass Magie nur wirkte mit bestimmten Bewegungen. Elphaba hatte es leicht! Sie musste nur ihre niedliche Nase wackeln und Simsalabim!
„Oh, Moment!", entfuhr es Gretel. Elphaba hatte ihr doch etwas für solche Notfälle hinterlassen. Was war das noch gleich?
„Redest du wieder mit dir selbst?", hörte sie Rotkäppchens spöttische Stimme. „Oder hast du es dir anders überlegt und hilfst mir Selena zu "überraschen"?"
Gretel warf Rotkäppchen einen wütenden Blick zu, als diese auf sie zu schlenderte. Sie knabberte an einen von Gretels frisch gebackenen Muffins.
„Gar nicht so schlecht", meinte Rotkäppchen und nahm einen weiteren Bissen von dem Muffin, bevor sie ihn achtlos in den Ofen warf.
„Ich hoffe doch, dass du für den bezahlst", merkte Gretel an und reckte das Kinn. Rotkäppchen war um einiges größer als sie, aber davon würde sie sich gewiss nicht einschüchtern lassen.
„Gibt es bei dir keine Kostproben?"
„Nicht nach dem zehnten angebissenen Muffin", murrte Gretel.
„Da ist aber jemand zimperlich." Rotkäppchen schüttelte den Kopf. Dann schaute sie zu Gretel hinab und neigte leicht den Kopf. „Warum verteidigt du Selena überhaupt so? Weißt du nicht, was sie mit deiner Mutter gemacht hat?"
Gretel starrte Rotkäppchen verdutzt an. Für einen Moment verlor sie tatsächlich ein wenig ihre Standhaftigkeit, doch sie würde sich nicht täuschen lassen von dieser Schwindlerin. Selena hatte sie gewarnt vor ihren Spielereien. 
„Du weißt das gar nicht, oder?", hakte Rotkäppchen überrascht nach und verengte dann ein wenig die Augen, bevor sie sich elegant auf einen Stuhl setzte. Mit einem süffisanten Lächeln angelte sie sich einen weiteren Muffin, der auf einem der vielen Bleche abkühlte.
„Du würdest mir wahrscheinlich eh nicht glauben, wenn ich es dir erzähle", meinte Rotkäppchen und zuckte mit den Schultern. „Ich meine, ich würde es an deiner Stelle auch nicht. Weil, dass was Selena getan hat, ist sogar für mich eine Nummer zu krass."
Gretel wusste, dass man Rotkäppchen nicht trauen konnte, aber sie konnte ihre Neugier nicht zurückhalten. Wahrscheinlich würde sie damit einen Fehler machen und genau in Rotkäppchens Falle treten, aber sie musste einfach fragen: „Was genau meinst du damit?"

Die drei Mythengetiere Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt