Hel hatte sich mittlerweile an den pulsierenden Schmerz, der von dem Amulett ausging, gewohnt. Aber es war trotzdem nervig. Es war, als wäre ihr Nervensystem gelähmt. Sie fühlte sich ein wenig wie eine vertrocknete Orange, der man allen Saft entzogen hatte.
Hel hatte nicht gewusst, dass es solche Amulette gab, die Magie blockieren. Sie hatte so einiges nicht gewusst, wie sie bitter feststellen mussten, nachdem sie das Totenreich verlassen hatte. Sie war seit ihrer Geburt nie irgendwo anders gewesen, da ihr Vater sie gleich dorthin abgeschoben hatte. Natürlich würde er es NIE so formulieren. Aus seinem Mund klang es jedes Mal, wie die höchste Ehre, die Hel hätte zukommen können. Sie war auserwählt. Sie war besonders. Blablabla!
In den ersten hundert Jahren hatte es Hel auch noch großartig gefunden und war geblendet von den Worten ihres Vaters gewesen. Aber während die Jahre vorbeiflogen, sickerte die Wahrheit langsam in ihr Bewusstsein und somit begann auch die Fassade ihres Vaters Loki zu bröckeln. Denn die Wahrheit war, dass das Totenreich stinklangweilig war. Und dass ihr Vater log, sobald er den Mund aufmachte, und sich nur für sich interessierte. Niemanden sonst.
Das Einzige, was Hel über die vielen Jahrhunderte bei Laune gehalten hatte, waren die Geschichten der Toten. Sie hatten ihr von ihren Leben, anderen Ländern und den aktuellen Ereignissen erzählt. Daher wusste sie theoretisch alles, was außerhalb des Totenreiches vor sich ging ... theoretisch.
Hel seufzte lautlos und trottete hinter Selena her, die in einer wilden Diskussion mit diesem nervigen kleinen Fuchsdämon steckte. Hel hatte gehofft, dass der Kleine nicht mitkommen würde. Aber er hatte sich nicht davon abbringen lassen und egal, wie sehr Selena oder sie ihn bedroht, angefleht oder ignoriert hatten, er war ihnen weiterhin gefolgt.
Irgendwann hatte sich Selena dann doch erweichen lassen und angefangen mit dem kleinen Fuchs zu reden. Hel hätte das nicht getan. Sie war extrem gut im "kalte Schulter zeigen". Doch Selena schien ganz im Gegensatz zu ihrem schrecklichen Ruf ein weiches Herz zu haben. Genau wie Grerr gesagt hatte.
Idioten ... ich sollte die beiden einfach in den Märchenwald aussetzen, sobald ich mit dieser Königin gesprochen habe, überlegte Hel und hörte, wie die beiden darüber argumentierten, welche Früchte die Besten waren. Hel hatte etwa vor einer Stunde aufgegeben, mit den Augen zu rollen, weil das auf die Dauer langweilig wurde, wenn das niemand sah. Aber jetzt juckte es ihr wieder gewaltig in den Augen, wenn sie diesen beiden Idioten lauschte.
Hel beobachtete Kit, der auf Selenas linker Schulter saß und wild mit den kleinen Pfoten gestikulierte.
Warum wollte er ein Held sein? Hel hatte dafür kein Verständnis. Sie fand die Vorstellung einfach nur furchtbar öde.
Jeder konnte ein Held sein. Sogar ihr verlogener Vater Loki. Mit seinen Täuschungen blendete er alle und machte sich bei Odin breit, während er sich als Held feiern ließ. Daran war nichts Nobles oder Ehrenhaftes. Selbst ihr dämlicher Onkel Thor wurde als DER Held in Asgard gefeiert. Aber alles, was der Ich-hab-so-tolles-Haar-Kerl tat, war seinen Hammer auf Feinde werfen und blöd dabei zu grinsen.
„Hey Hel", wandte sich Selena zu ihr um. „Apfel oder Birne?"
„Trauben, damit ich sie mir in die Ohren stecken kann, um eurer dummes Gelaber nicht mehr zu ertragen", erwiderte Hel genervt und mied ihren Blick.
„Trauben?", wiederholte Selena nachdenklich. „Ich hätte dich mehr als eine Bananenperson eingeschätzt ..."
Hel konnte gar nicht so laut aufstöhnen wie sie es gerne tun würde. Warum genau tat sie sich diese Dummheit nochmal an?
„Bist du immer noch bockig wegen den Amulett?", wandte sich Selena erneut an sie und verlangsamte ihre Schritte, um neben Hel herzulaufen.
Hel verzog das Gesicht. „Ja! Ich habe dir immerhin mein verdammtes Götterehrenwort gegeben, dass ich dich nicht umbringen werde, und trotzdem lässt du das lästige Ding an mir hängen."
„Hast du Schmerzen?", erkundigte sich Kit und kam zu ihr hinüber geflogen, um direkt vor ihrem Gesicht zu schweben.
„Nur, wenn ich dich anschauen muss", zischte Hel und Kit wich mit verletztem Blick zurück.
„Ach, komm, der Kleine hat dir nichts getan", mischte Selena sich ein. „Lass deine Wut und Frust an mir aus und nicht an ihm."
Kit strahlte Selena an und flog wieder zu ihr, um sich auf ihre Schulter zu setzen. Hel erwartete, dass er jeden Moment anfangen würde zu schnurren wie eine Katze.
„Das ist eben eine kleine Sicherheitsmaßnahme. Nichts gegen dich persönlich, aber ich traue keinen Göttern", erklärte Selena lächelnd und reichte Hel eine frische Banane. „Hier. Ein kleines Friedensangebot."
Hel musterte verdutzt die Banane. „Woher ..." Ihr Blick glitt an Selena herunter. Die Wölfin trug nichts außer ihre rote Lederveste mit der Kapuze, schwarze Lederhosen und ihren breiten Grütel mit kleinen Taschen. Woher bei Odin hatte sie diese Banane gezaubert?!
Selena grinste und tätschelte eine der kleinen Taschen an ihrem Gürtel. „Ein Geschenk von Hans im Glück. Diese kleine Tasche zaubert dir jedes Essen, das du dir wünscht."
Hel zog die Augenbrauen zusammen, nahm aber die Banane entgegen. „Du bekommst ziemlich viele ... Geschenke."
Selena hob die Arme in einer unschuldigen Geste. „Nun, sagen wir manchmal wissen die Schenkenden nicht, dass sie mir etwas schenken."
„Warum bist du eigentlich hier?", wollte Hel wissen.
Selena ging neben Hel her, während Kit sie aufmerksam musterte.
„Aus dem selben Grund wie du", erklärte Selena. „Ich will herausfinden, was passiert ist."
Hels Mundwinkel zuckten nach Oben. „Stimmt es, dass dir die Freiheit versprochen wurde, wenn du herausfindest, was in der griechischen Mythologie passiert ist? Haben sie dich deswegen aus dem Gefängnis gelassen?"
„Du warst im Gefängnis?!", platzte es aus Kit heraus. Selena warf Hel einen Seitenblick zu.
„Woher willst du wissen, dass ich im Gefängnis war?"
Hel hob eine Augenbraue und konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verwehren. Sie liebte es, wenn sie die Oberhand hatte und sie andere überrumpeln konnte. Das hatte sie von ihrem Vater. Eine der wenigen Charakterzüge von ihm, die sie an sich akzeptieren konnte.
„Nun, dein Zwergenfreund Grerr hat dich den großen, bösen Wolf genannt und JEDER kennt die Geschichte. Sogar im Totenreich hat man das damals mitbekommen."
Selena schnaubte auf. „Ja, jeder kennt die LÜGENgeschichte."
„Lügen?", hakte Hel nach, als Kit auf einmal zwischen ihnen hochschoss in die Luft. Seine Ohren waren aufgestellt und seine zwei Fuchsschwänze fuhren nervös hin und her.
„Was ist los, Kleiner?", wollte Selena wissen. Hel blieb wie Selena stehen und beobachtete den kleinen Fuchs, der über ihnen durch die Luft schwebte und in der Luft schnupperte.
„Magie ... ich rieche Magie", murmelte Kit und schaute zu den beiden hinab. Seine Augen glühten warnend. „Böse Magie."
Selena fuhr sich über die Arme und Hel bemerkte, dass die Wölfin tatsächlich Gänsehaut bekommen hatte.
„Ernsthaft? DU gruselst dich bei ein bisschen Magie?", lachte Hel. „Das hätte ich ja jetzt nicht von dem großen, bösen Wolf erwartet."
Selena verzog das Gesicht. „Wenn du wüsstest, wie es im Märchenwald ist, dann würdest du dich auch gruseln. Das letzte Mal, als ich da drinnen war, wäre ich fast drauf gegangen."
„Diese böse Magie ist der Märchenwald?", fragte Kit verwirrt und schwebte auf Selenas Schulter zurück. Diese hob die Hand und deutete vor sich. Hel folgte ihrer Hand und konnte am Horizont eine schwarze Linie ausmachen.
„Ja, der Wald ist nicht mehr weit", erklärte Selena mit ernster Miene. „Nicht mehr als einen halben Tag und wir sind da."
„Dieser Wald macht mir Angst", gestand Kit.
Hel seufzte. „Bei Odin, jetzt mach dir dich gleich ins Hemd, Fuchsbaby. So schlimm wird das bestimmt nicht sein."
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Die drei Mythengetiere
AdventureScheiß auf: Einer für alle! Wenn die vereinigten Länder der Mythen und Märchen von einem Fluch heimgesucht werden, machen sich drei Helden auf den Weg, den Fluch zu brechen und ihre Welt zu retten. Naja, nicht Helden. Sagen wir ein Ex-Sträfling, ei...