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Am Ende eines Tages ist nur wichtig, dass ein Moment dabei war, der dich lächeln ließ.

Unbekannt

"Wie war deine Woche, Emely?" Langsam glaube ich, dass ist seine Art mich zu fragen, wie es mir geht. Immerhin wusste er schon seit unserer ersten Sitzung, dass ich ihm wohl nie auf die Frage: Wie geht es dir? antworten konnte oder auch wollte. Leider musste ich feststellen, dass mir heute ein Einfaches Wie geht es dir? lieber gewesen wäre. Denn dann hätte ich ausweichen können. Auf die Frage, wie meine Woche war, konnte ich nicht ausweichen. Da ich mich, kurz bevor ich das Büro von Dr. Mayers betreten hatte, dazu entschlossen hatte ihm nichts von Christian zu erzählen, bis ich mich entschuldigt habe, müsste ich ihn demnach belügen. Und das wollte ich nicht. Deswegen begann ich zu überlegen, was ich ihm nun erzählen konnte. Dabei fiel mir allerdings nur auf, dass sich erschreckenderweise die komplette Woche ausschließlich um Christian drehte. Noch nicht einmal gezeichnet hatte ich, naja, vorausgesetzt man kann meine Versuche in den letzten Wochen überhaupt als zeichnen betiteln. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, hatte ich mich tatsächlich das letzte Mal vor meinen Zeichenblock gesetzt, bevor Christian in meinem Zimmer war.

Als ich merkte, dass Dr. Mayers mich schon eine Weile musterte antwortete ich ihm schnell mit einem kurzem "Gut." Ich versuchte seinem Blick standzuhalten und dabei leicht zu lächeln. An seinem Blick allerdings, begriff ich sofort, dass er mich schon längst durchschaut hatte. Zugegebener Maßen, war es auch bestimmt nicht schwer. Immerhin hatte ich mindestens fünf Minuten, die mir eher wie fünf Stunden vorkamen, gebraucht um auf seine Frage mit einem simplen Gut zu antworten. Und ganz nebenbei hatte ich auch noch nervös meine Hände geknetet. So betrachtet, war es für ihn ein Einfaches mich zu durchschauen. Wahrscheinlich hätte mich sogar ein Blinder durchschauen können.

"Ich habe das Gefühl als würde dich etwas bedrücken." kommentierte er meine Reaktion und traf damit mal wieder genau ins Schwarze. "Nein, ich meine doch, also ich denke vielleicht..." stotterte ich ohne zu wissen, was ich eigentlich sagen wollte, ehe Dr. Mayers mich unterbrach. "Fang doch einfach von vorne an Emely. Wir haben genügend Zeit."

Und so kam es dann auch, dass ich ihm in dieser Sitzung alles über Christian erzählte, obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte. Ich erzählte ihm von meiner ersten Begegnung mit ihm. Über die folgenden Zusammentreffen in der Schule. Wie er mich die ganze Zeit über ignorierte und wie ich mich dabei fühlte. Ich erzählte ihm von der Auseinandersetzung in meinem Zimmer und den Tagen darauf. Von meinem schlechten Gewissen und sogar über die Sorgen, die ich mir mittlerweile über Christian machte. Ohne auch nur eine kleine Pause zu machen hatte ich bestimmt eine Stunde lang erzählt. Es rasselte einfach alles aus mir heraus, so als hätte ich schon ewig darauf gewartet es endlich von meiner Seele sprechen zu können. Und dabei wollte ich, dass alles noch nicht einmal.

Da Dr. Mayers während meines Monologes keine Äußerung von sich gab, war ich nun gespannt auf sein Urteil. "Wie fühlst du dich jetzt, wo du all deine Gefühle und Empfindungen rauslassen konntest?" "Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich meine es tat gut darüber zu sprechen. Ich fühle mich leichter, so als wäre eine Last von meinen Schultern gefallen. Aber ich habe noch immer dieses schlechte Gewissen, wenn ich nur an Christian denke. Ich weiß einfach nicht" Ich musste einmal schlucken um weiter sprechen zu können. Vor nichts auf der Welt hatte ich mehr Angst als vor der Antwort auf die Frage, die mich mittlerweile schon viel zu lange verfolgt. "Bin ich ein schlechter Mensch?"

Zum ersten Mal, in all unseren Sitzungen, sah ich ihn nun ehrlich und direkt an, als ich diese Frage an ihn richtete. Man könnte fast meinen, dass ich ihn sogar schon verzweifelt anstarrte. Zumindest hörte sich meine Stimme ganz danach an.

"Wie kommst du auf den Gedanken, du könntest ein schlechter Mensch sein?" Ich merkte, als ich auf meine Hände sah, dass ich sie wieder oder vielleicht auch immer noch nervös knetete.

"Naja, Christian hat recht. Ich habe mich ihm gegenüber schrecklich verhalten. Im Nachhinein betrachtet, habe ich mich gegenüber allen furchtbar benommen. Und jetzt will ich mich bei ihm dafür entschuldigen, aber eben nur mit dem Beweggrund, endlich mein schlechtes Gewissen beruhigen zu können."

"Weißt du Emely, ein schlechtes Gewissen zu haben, bedeutet nicht, dass man ein schlechter Mensch ist. Ganz im Gegenteil. Es bedeutet, dass es dir leidtut, jemand Anderen verletzt zu haben. Um ein schlechtes Gewissen einem Menschen gegenüber entwickeln zu können, so wie du es gegenüber Christian empfindest, muss einem etwas an dieser Person liegen. Außerdem hast du dich auch, wie du sagst, gegenüber anderen furchtbar benommen. Was mir zeigt, dass du auch gegenüber diesen Menschen ein schlechtes Gewissen entwickelt hast. Und an all dem ganzen schlechten Gewissen, dass du jetzt verspürst, sehe ich, dass du gar kein schlechter Mensch sein kannst. Immerhin steckt hinter jedem Stückchen schlechten Gewissen, ein Mensch, der dir aus den unterschiedlichsten Gründen wichtig ist. Und ganz abgesehen davon, machst du dir Sorgen. Sorgen um Christian, aber auch Sorgen um seine Familie." Nach einer kurzen Redepause sprach er nun lächelnd weiter. "Und seien wir mal ehrlich, welcher schlechte Mensch könnte sich schon um jemand Anderen, als sich selbst sorgen."

Es war wohl das erste Mal seit langem, dass ich wieder lächelte und dabei auch glücklich war. "Keiner."

In ewiger Liebe, EmelyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt