Denn Willen nenne ich das Wirken, denn ist der Wille da, so wirkt man, sei es in Werken, Worten oder Gedanken.
Buddha
Mit einem lauten Piepen ließ mich mein Wecker aus meinen Gedanken aufschrecken. Es war ziemlich ungewöhnlich für mich an einem Montagmorgen schon vollkommen wach zu sein. Um genau zu sein war es das Erste mal. Allerdings war auch mein heutiges Vorhaben eine Premiere. Denn heute war der Tag gekommen, an dem ich mich bei Christian entschuldigen wollte. Und obwohl ich es gestern kaum erwarten konnte, dass der Tag zu Ende geht, damit ich mich endlich bei ihm entschuldigen konnte, so wäre es mir an diesem Morgen lieber, mich niemals bei ihm entschuldigen zu müssen. Jetzt habe ich sogar etwas Angst davor. Ich meine, würde er mir überhaupt verzeihen? Würde er überhaupt etwas, zu dem was ich zu sagen habe, erwidern? Würde er mich anhören? Oder das Weite suchen sobald er mich erblickt? Zugern würde ich die Antworten auf diese Fragen bereits kennen oder sie nie erfahren müssen. Allerdings weiß ich auch, dass wenn ich mich nicht entschuldige, mich das schlechte Gewissen nicht mehr loslassen würde. Demnach blieb mir also wohl oder übel nichts anderes übrig, als mich der Situation zu stellen und egal wie es ausgehen mag, es einfach hinnehmen. Zumindest könnte ich dann mit dem Kapitel Christian abschließen.
Durch das ganze Grübeln merkte ich leider nicht, wie schnell die Zeit verflog und musste nach einem kurzen Blick auf die Uhr feststellen, dass mein Schulbus schon vor fünf Minuten losgefahren ist. Und da meine Mum heute, aus einem mir unerklärlichem Grund, nicht zu Hause ist um mich in die Schule fahren zu können, musste ich also laufen und hoffen, dass ich schnell genug sein würde um die Schule noch rechtzeitig zu erreichen. Und so verlies ich kurze Zeit später und leise fluchend das Haus. Doch meinen Plan, mich noch vor Unterrichtsbeginn um es auch schnellst möglich hinter mir zu haben, zu entschuldigen fiel trotzdem schonmal ins Wasser.
Völlig erschöpft erreichte ich die Schule, wobei ich zugleich feststellen musste, dass die erste Stunde bereits begonnen hatte. Wenig später betrat ich, nach einem kurzen Klopfen, mein Klassenzimmer und mit einem leisen "Entschuldigung" und ließ ich mich auf meinen Platz fallen. Erst als sich meine Atmung langsam beruhigt hatte, ließ ich meinem Blick durch die Klasse schweifen, wobei er an seinem Platz hängen blieb. Wie ich allerdings mit dem was ich dort erblickte umgehen sollte, wusste ich noch nicht. Ich hatte wirklich schon alle mir bekannten Möglichkeiten, wie der Tag heute ablaufen würde und meine dazugehörige Reaktion, durchdacht. Doch die Möglichkeit, die mir jetzt geboten wurde, hatte ich völlig außer Acht gelassen. Sein Platz war leer. Christian war gar nicht da. Was soll ich denn jetzt machen? Sollte das ein Zeichen sein, die ganze Sache einfach auf sich beruhen zu lassen? Oder wollte das Schicksal, dass ich mein schlechtes Gewissen noch eine Weile behalte.
Während ich mir also wieder einmal den Kopf zerbrach, kam es mir ganz plötzlich in den Sinn, dass er eventuell ebenfalls verschlafen haben könnte oder er aus irgendeinem anderem Grund den Schulbus verpasst hatte. Vielleich kommt er ja einfach später, weil er einen wichtigen Termin hat oder vielleicht hatte er auch einfach keine Lust aufzustehen und erscheint deshalb einfach später im Unterricht. Von diesem Gedankengang geleitet, beschloss ich den heutigen Tag einfach abzuwarten und sobald er die Schule betreten sollte, würde ich ihn abfangen und mich bei ihm entschuldigen.
Zu meinem eigenen Bedauern musste ich allerdings feststellen, dass Christian auch den Rest des Tages nicht mehr in der Schule auftauchte. Und ob es mir nun gefiel oder nicht, so musste ich mit meiner Entschuldigung bis zu unserem nächsten Zusammentreffen warten.
Als ich am Abend von der Schule nach Hause kam, wartete meine Mum schon mit dem Abendessen auf mich.
"Hallo, Spätzchen. Setz dich doch gleich an den Tisch. Das Essen ist schon fertig." "Wo warst du den heute Morgen?" da ich schon den ganzen Tag neugierig darauf war, konnte ich nicht mit meiner Frage warten. Immerhin war es das erste Mal seit dem Unfall, dass ich alleine zu Hause war. "Ich war drüben bei Margret, da sie meine Hilfe brauchte." gab sie mir mit einem Schulterzucken zur Antwort. Noch letzte Woche hätte ich mir über diese Worte Hoffnungen gemacht, ob Margret vielleicht bei ihrem eventuellen Umzug in einen anderen Bundesstaat, ihre Hilfe benötigte. Doch mittlerweile, musste ich feststellen, hatte sich diesbezüglich einiges verändert. Denn ich machte mir über ihre Antwort keine Hoffnungen. Im Gegenteil, ich machte mir sogar Sorgen. Darüber, ob vielleicht etwas passiert ist und Christian deshalb nicht in der Schule war. Möglicherweise hatte einer von den Mikelsons seinen Job verloren, oder noch schlimmer jemand von ihnen hatte einen Unfall. Es hätte auch eine Erkrankung oder ein Todesfall in der Familie sein können. Und obwohl ich wusste, dass ich mir bestimmt noch die ganze Nacht meinen Kopf zerbrechen würde, so wollte ich auf keinen Fall meine Mum fragen, bei was sie Margret geholfen hatte. Denn würde ich sie fragen, dann würde sie sich sicherlich über mein plötzliches Interesse wundern. Sie würde mich nur fragen, warum ich auf einmal Interesse an dem Leben der Mikelsons hätte. Und ich würde ihr keine Antwort geben können, da ich um ehrlich zu sein, selber nicht weiß, warum ich mich um sie sorge. Mein schlechtes Gewissen, weil ich sie nicht nett behandelt hatte, konnte nicht allein die Antwort darauf sein. Und das Schlimmste würde sein, dass ich, vollkommen egal, welche Fragen mir Mum stellen würde, ich keine einzige wirklich beantworten könnte und sie sich folglich dazu genötigt fühlen würde mich wieder öfter zu Dr. Mayer zu schicken. Und auf noch mehr Therapiestunden habe ich noch weniger Lust als auf eine schlaflose Nacht. Abgesehen davon, habe ich mich noch nicht mal um die Aufgabe, die er mir gegeben hatte, gekümmert, und das obwohl übermorgen schon die nächste Stunde ist.
Als ich mich an diesem Abend ins Bett legte, arbeitete mein Kopf noch auf Hochtouren. Immer wieder ging ich die verschiedensten Szenarien durch, was nun mit Christian und seiner Familie sein könnte. Wie wahrscheinlich war ein Unfall oder eine Erkrankung in seiner Familie. Und plötzlich wurde mir bewusste, wie ich in den letzten Wochen nur mit mir selbst beschäftigt war. Ich meine, ich liege hier wach und überlege über das Schicksal einer Familie, die ich doch eigentlich gar nicht kenne, obwohl sie schon so oft zu Besuch waren und jedes Mal jede Menge über sich erzählten. Ich aber war immer so in meine Gedanken vertieft, dass ich von all den Geschichten und Ereignissen, die sie aus ihrem Leben erzählten, rein gar nichts mitbekommen hatte. Ich wusste noch nicht einmal wo sie vorher gelebt hatten oder ob es noch andere Familienmitglieder gab. Mir wurde mit einem Mal bewusst, wie recht Christian hatte, mich zu Ignorieren. Immerhin hatte ich wirklich kein Interesse an seinem Leben gezeigt. Andererseits hätte sich auch einfach er um ein Gespräch bemühen können. Nur weil ich kein Gespräch suchte, bedeutet das doch noch lange nicht, dass er keines suchen durfte. Wahrscheinlicher ist es dann doch, dass er einfach nicht die Energie aufbringen wollte um mit mir ein Gespräch zu führen, doch Interesse hatte er offensichtlich. Immerhin konnte ich mich jetzt wieder ganz genau an den letzten Satz erinnern den er sagte, als er mein Zimmer verließ: Übrigens interessieren mich deine Bilder sehr wohl. Ich finde sie sogar toll.
Diesen Satz hatte er so leise gesagt, dass es schon mehr ein flüstern war. Und dennoch hatte ich jedes einzelne Wort genau verstanden. Ich hatte nur nicht realisiert, was sie bedeuten. Ich dachte er wollte mir einfach nur ein schlechtes Gewissen bereiten, was er nebenbei bemerkt auch sehr gut geschafft hatte, aber jetzt denke ich, hat er dies gesagt, um mich darauf aufmerksam zu machen.
Nach dieser Erkenntnis schlief ich dann auch endlich ein, mit dem Entschluss, mich nicht mehr nur bei ihm zu entschuldigen um mein Gewissen zu beruhigen. Nein, ich wollte nun endlich etwas aus seinem Leben erfahren. Ihn kennenlernen und vielleicht, wer weiß, würde sich sogar eine Freundschaft daraus entwickeln. Vorausgesetzt, er würde meine Entschuldigung annehmen.
Leider bekam meine am Vortag entstandene Entschlossenheit einen gehörigen Dämpfer, als ich feststellen musste, dass Christian auch an diesem Tag nicht in der Schule erschien. Langsam machte ich mir wirklich Sorgen um ihn. Zumal auch in der Schule niemand zu wissen schien, warum er schon den zweiten Tag fehlte. Das einzige, dass mich etwas Beruhigte, war die Tatsache, dass Mum schon den ganzen Tag zu Hause war und Margret somit nicht mehr ihre Hilfe benötigte.
Mittlerweile hatten wir Mittwoch. Der Schultag war schon vorbei und von Christian fehlte noch immer jedes Lebenszeichen. Okay ich weiß, dass ich etwas übertreibe. Zu meiner Verteidigung allerdings, weiß noch immer niemand Bescheid, warum er fehlte.
Plötzlich fiel mir wieder meine Therapiestunde bei Dr. Mayer ein. Sollte ich ihm etwas über meine Sorgen erzählen? Immerhin, war er der Einzige, der wusste, dass ich mir schon von Anfang an Gedanken über Christian machte, obwohl ich es noch nie ausgesprochen hatte. Es war eine der ersten Sitzungen an dem er das Thema aufgegriffen hatte und als ich ihm nur mit einer vagen Aussage antwortete, ließ er das Thema wieder fallen. Ich glaube er hatte mich nach dieser Antwort durchschaut. Und wenn ich mich mit ihm darüber unterhalten sollte, so ging es mir vielleicht etwas besser und möglicherweise hat er sogar einen Tipp für mich.
Allerdings könnte ich mich auch täuschen und ich würde mich nur selber ans offene Messer liefern, wenn er es meiner Mum erzählen würde. Allerdings haben Ärzte nicht eine Schweigepflicht? Und gilt diese auch bei Minderjährigen? Ich sollte mich schnellst möglich darüber informieren, bevor mir bei Dr. Mayer einmal etwas heraus rutscht, dass für niemanden Ohren geeignet war.

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In ewiger Liebe, Emely
Teen FictionFür Emely hatte das Leben schon immer Hindernisse breit. Da sie verschlossen und etwas ruhiger ist als gewöhnliche Teenager in ihrem Alter glauben ihre Eltern sie ist depressiv und schleppen sie gerne von Arzt zu Arzt. Dabei will Emely einfach nur i...