2. Kapitel

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Das ist also der letzte Tag an dieser Schule... Dieser Satz schwirrte mir schon den ganzen Morgen durch den Kopf. Ich war gleichzeitig total aufgeregt und fröhlich zugleich, aber auch unsicher, ob ich an der neuen Schule wohl akzeptiert werde.

Noch heute Nachmittag würde ich an das Woodwalker-Internat gehen. Ich beschloss, mich heute etwas mehr als sonst anzustrengen, damit ich bei den Lehrern an meiner Highschool einen nicht ganz so schlechten Eindruck hinterließ.

Nach der ersten Stunde verabschiedete ich mich brav von unserem Lehrer, der mir viel Glück an meiner neuen Schule wünschte.

Die anderen Schüler wussten, dass ich bald weg sein würde und waren etwas netter als sonst, einige lächelten mich an, andere erzählten mir, wie sehr sie mich vermissen würden.

Die allerletzte Stunde an dieser Schule hatten wir Deutsch, mit unserer Klassenlehrerin. Die Stunde verlief eigentlich ganz normal, aber am Ende holte unsere Lehrerin noch ein kleines Päckchen aus der Tasche und gab es mir. „Als Abschiedsgeschenk“, sagte sie dazu nur mit einem übertriebenen Grinsen und ich bedankte mich mit einem freundlichen Lächeln. Dann beeilte ich mich, um noch den Leuten, die mich nicht gemieden hatten, Lebewohl zu sagen.

Ich sah noch ein letztes Mal auf das graue, trostlose Gebäude; danach ging ich mit einem Kribbeln im Bauch den üblichen Weg nach Hause. In den Händen hielt ich noch immer das Geschenk meiner Deutschlehrerin, oder besser, meiner ehemaligen Deutschlehrerin. Was da wohl drin war?

Als ich zu Hause ankam, rannte ich das Treppenhaus hoch. Ich hielt es nicht mehr aus! Ich war so furchtbar neugierig. Endlich war ich oben, saß auf dem Sofa und betrachtete das Päckchen. Es war klein, aber sehr liebevoll gestaltet und sorgfältig eingewickelt. Dann riss ich es vorsichtig auf. Darin befanden sich ein paar Bonbons, eine kleine Karte, die man billig am Kiosk kaufen konnte, mit einer schnörkeligen Aufschrift „Viel Glück!“ und ein paar Stifte - nichts großartig besonderes, aber ich war froh, dass meine Klassenlehrerin an mich gedacht hatte.

Kurz darauf lief ich in mein Zimmer und holte meine Tasche, in die ich alles gepackt hatte, was ich brauchen würde. Es war nicht sonderlich viel, ich hatte noch nie großen Wert auf Materielles gelegt. Da entdeckte ich, dass noch etwas fehlte. Schnell ging ich zu meinem Nachttisch und nahm ein eingerahmtes Foto herunter. Darauf waren mein Vater und ich abgebildet, als ich fünf Jahre alt war. Er hatte mich auf dem Arm und wir beide lachten herzlich. Meine weißen Haare flogen durch die Luft. Mit einem Finger strich ich noch einmal über das Bild, dann packte ich es in meine Tasche.

Danach setzte ich mich wieder auf das Sofa und wartete darauf, dass mein Vater heim kam.

Als die Klingel summte, stürmte ich zur Tür und riss sie auf.

Wir setzten uns ins Auto und fuhren los. Meine gute Laune verflog und mir wurde mulmig zumute. Ob sie mich dort annehmen würden? Oder ob ich auch dort einfach ignoriert und für verrückt gehalten werden würde? Vielleicht würde ich Freunde finden. Würde ich mir mit einem netten Schüler ein Zimmer teilen? Oder würden wir uns nicht ausstehen können? Je länger ich nachdachte, umso ängstlicher wurde ich.

Dann kamen wir endlich an. Ich sah aus dem Fenster. Wir waren an einem recht abgelegenen Ort. Vor uns stand ein großes Gebäude. Ob da viele Leute drin waren? „Komm, wir suchen das Sekretariat“, sagte Ben und riss mich aus meinen Gedanken.

Wir gingen gemeinsam zum Gebäude, und ich sah nach oben. Dort stand in leuchtend silberner Schrift der Name der Schule geschrieben; Victoria Icestormhigh of Canada. Ich öffnete die schwere Tür und sah mich um. Wir waren in einer riesigen Eingangshalle. Man fühlte sich unglaublich klein hier drin und wurde sofort ehrfürchtig vor dieser Schule. Rechts von mir erkannte ich eine breite Wendeltreppe. Links befanden sich drei weiße Türen und eine hatte die Aufschrift: SEKRETARIAT.

Ich klopfte vorsichtig an und ein „Herein!“ erklang. Mein Vater und ich betraten den Raum. An einem Schreibtisch saß eine etwas größere Frau mit gepflegten, kurzen, braunen Haaren.

„Ah, hallo, Ihr müsst Ayla und Ben Smith sein!“, sagte sie, als sie uns sah. „Guten Tag“, antwortete ich vorsichtig. Sie deutete auf zwei Stühle. Wir setzten uns. „Ich heiße Chloe Snowfly und leite das Internat. Also... ich habe hier einen Infozettel für Sie. Und diesen Stapel für dich. In dem Stapel sind alle Schulbücher, ein Stundenplan und die Schulregeln, die solltest du dir durchlesen.“, erklärte sie.

Sie redete noch mit meinem Vater über organisatorische Dinge, doch ich hörte gar nicht so genau hin. Ich sah mir die Schulbücher an. Einige waren normale Schulfächer, die ich von meiner alten Schule schon kannte, Physik, Mathe, Kunst... Weiter unten im Stapel sah ich jedoch Bücher für andere Fächer, von denen ich noch nie gehört hatte. Tiersprachen stand in goldener Schrift auf dem Buch, das mir zuerst in die Hände fiel. Ich begann, durch die leicht gelblichen Seiten zu blättern. Füchse, Hirsche, verschiedene Vögel... Ich staunte, als ich die Seite über Mäuse entdeckte. Warum sollte ich mich mit Mäusen verständigen wollen? Ich musste schmunzeln.

Da merkte ich, dass Mrs Snowfly mit mir sprach.

„... achso, und du wohnst in Hütte sechs, Zimmer zwei. Deine Zimmernachbarin heißt Nelly, ihr werdet euch bestimmt gut verstehen. Sie wird dir die Schule zeigen.“

Dann verließen wir das Sekretariat und ich ging mit meinem Vater vor die Schule. „Ich glaub, ich muss jetzt los“, sagte er und fügte hinzu: „Hier sieht's doch ganz nett aus. Ich hoffe, es gefällt dir hier.“ - „Ja, ich glaube bisher gefällt es mir sehr gut! Mach dir keine Sorgen, Papa. Ich ruf dich jeden Abend an, ja?“, sagte ich und vermisste ihn fast jetzt schon. Er gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Tschüss, mein Schatz“, sagte er über die Schulter, während er sich ins Auto setzte. „Tschüss Papa“, sagte ich schweren Herzens und schaute ihm nach.

Dann machte ich mich auf in Richtung der Hütten, die hinter der Schule standen. Zwei ältere Schüler kamen mir entgegen, sie sahen mich kurz an und lächelten dann. „Hey, bist du neu hier?“, fragte einer der beiden. Ich nickte nur. Sie murmelten sich etwas zu und gingen weiter. Ich sah mir die Aufschriften der Hütten an. Über jeder Hütte befand sich ein Schild, sie waren mit römischen Zahlen durchnummeriert. Ich lief herum und fand nach kurzer Zeit die Hütte mit der Aufschrift VI, die jetzt mein Zuhause sein würde.

»𝔽·𝕣·𝕠·𝕤·𝕥•𝕎·𝕒·𝕝·𝕜·𝕖·𝕣·𝕤«Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt