Tödlicher Fluchtversuch

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Nach gefühlten Stunden des Trübsalblasens wurde mir klar, dass ich einen Plan brauchte, wenn ich noch irgendetwas aus meinem Leben machen wollte. Natürlich wollte ich flüchten, fragt sich nur, wie. Auch diesbezüglich hatten wir eigentlich schon viel gelernt, doch ich hatte es nie als nötig empfunden, dort aufzupassen, da ich immer davon ausgegangen war, dass ich sowieso nie in eine Situation, in der ich dieses Wissen brauchen könnte, kommen würde.

Tja, falsch gedacht, Julian. Jetzt musste ich also von der "Learning by doing"- Methode Gebrauch machen. So schwer konnte das doch nicht sein. Angestrengt begann ich zu überlegen. Ich sah es als Vorteil, dass ich nicht auf irgendeine Art und Weise gefesselt war und ich mich auch nicht im Sicht- öder Hörfeld meines Kidnappers befand. Wie mir das bei meiner Flucht helfen konnte, wusste ich aber beim besten Willen nicht.

Da ich langsam merkte, wie mein Magen zu knurren begann, machte ich mich erstmal daran, nach etwas Essbarem zu suchen. Versteht mich nicht falsch. Ich dachte nur, dass ich, falls mir die Flucht wirklich gelingen sollte, wohl länger nicht an Nahrung kommen würde und an das Verhungern konnte ich getrost verzichten. Freudig stellte ich also fest, dass alle Zutaten, von denen man erwarten würde, dass sie in einem Imbissstand für türkischen Fastfood  zu finden wären, auch tatsächlich vorhanden waren. Ich hoffte nur inständig, dass ich durch den Geruch nicht auf mich aufmerksam machen würde. Doch es stellte sich gleich heraus, dass diese Sorgen überflüssig waren. Das Fleisch war nämlich noch angewärmt und definitiv gut genug für mich.

Da ich auch auf unnötige Geräusche verzichten wollte, riss ich es einfach mit meinen Händen herunter und gab dann einfach alle Zutaten in ein Stück Fladenbrot, welches auch schnell gefunden war. Bevor ich zu essen begann, legte ich noch ein gutes Stück meines behelfsmäßigen Abendessens als Opfergabe zur Seite und betete zum Olymp, dass ich hier wieder hinauskommen würde.

Als ich schließlich essend am Boden saß, dachte ich, dass meine Lage doch nicht soooo schrecklich war. Schließlich gab es gratis Essen, was mich zumindest für den Moment zufrieden stimmte. Während ich so dasaß, merkte ich tatsächlich, wie ich mich langsam entspannte und zur Ruhe kam, die Panik langsam ausblenden konnte und ganz im Moment war.

Doch wie zu erwarten war, hielt diese innere Ruhe nicht ewig an. Als ich schließlich fertiggegessen hatte, wurde mir bewusst, dass es jetzt nichts mehr zu tun gab, als wirklich an meinem Fluchtplan zu arbeiten. Denn selbst das beste Gratisessen der Welt konnte nichts an meiner Situation ändern.

Ich versuchte also, die ersten Gedanken von vorher noch einmal aufzugreifen und in meinem Kopf eine Liste an Dingen, die die Flucht begünstigten und jenen, die sie erschweren würden, zu erstellen. Bewegungsfreiheit und die Tatsache, dass ich nicht beobachtet wurde, konnte schon einmal von Vorteil sein. Dass wir uns bewegten, konnte man als Vor- oder Nachteil ansehen. Ein eindeutiger Nachteil war jedoch, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich war, und dass ich nichts außer die Kleidung, die ich gerade anhatte, und mein Schwert bei mir hatte.

Aber gut. Ein Plan war das noch lange nicht. Ich entschied mich dazu, erstmal zu versuchen, das Fenster, durch das normalerweise das Essen gegeben wurde, aufzumachen. Allzu schwer war das den Göttern sei Dank nicht, da es sich einfach um eine nicht verschlossene Klappe handelte. Zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich den Himmel. Inzwischen war es schon wieder hell geworden, was wohl bedeutete, dass wirklich schon Stunden seit meiner Flucht vergangen sein müssen. Wir befanden uns auf einer Landstraße. Auf der linken Seite sah ich Felder, auf der rechten bloß Wald. Zu meinem Leidwesen fuhren wir ziemlich schnell, was sich als fluchterschwerender Faktor bezeichnen ließ.

Glücklicherweise habe ich aber aufgepasst, als es darum ging, aus Fahrzeugen oder generell Objekten, die sich bewegen, zu springen. Das lag aber nur an meiner Flugangst. Jedenfalls machte ich mich gedanklich bereit, gleich auf die Straße zu springen, mich abzurollen und endlich frei zu sein.

Etwas umständlich kletterte ich also auf die Arbeitsplatte, auf der ich schließlich zum Stehen kam. Für ein paar Sekunden schaute ich hinaus und genoss dieses Gefühl von Hoffnung.

Dann sprang ich. Das letzte, was ich je fühlen sollte, war, dass sich meine Jacke mit einem von mir nicht definierbaren Teil des Fahrzeuges verhedderte und ich tödlich gegen die Vorderseite des Imbisswagens knallte.

Vielleicht bin ich irgendwann auf der Straße gelandet. Vielleicht hat man mich irgendwann gefunden. Vielleicht bin ich aber auch gerade dabei, einfach so in der Wildnis zu verrotten, man weiß es nicht. Gut gemacht, Polyphemus, du hast mich ganz ohne dein Zutun getötet. 

The Half Blood AcademyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt