Kapitel 15: Nächtliches Feuer
Es dauerte lange, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Und selbst dann brauchte ich eine Ewigkeit, bis ich realisierte, dass ich allein war. Nicht allein mit der Last und allein auf der Welt - das sowieso -, sondern allein im Raum.
Die für mich wichtigsten Wege durch den Palast waren mir inzwischen vertraut und ich fand schnell den Weg zu meinem Zimmer. Nicht das, wo ich aufgewacht war, sondern das, was Jordayn mir gezeigt hatte. Estelles Zimmer. Dort legte ich mich auf das Bett und schloss die Augen. Mir wurde langsam alles zuviel. Warum konnte nicht jemand anderes die Auserwählte sein, warum ausgerechnet ich? Bald schlief ich ein.
Wieder der altbekannte Traum. Der Alptraum. Er kehrte immer wieder. Und heute kündigte er eine neue Welle an.
Ich lief eine dunkle Gasse entlang. Ich kannte sie nicht, und doch wusste ich, wo ich entlang laufen musste. Geradeaus, dann links, nochmal links und schließlich nach rechts. Ich stoppte erst vor einer großen schwarzen Flügeltür. Dass sie verschlossen war und nicht geöffnet werden konnte, wusste ich. Trotzdem versuchte ich mein Glück. Die Tür gab jedoch den Widerstand nicht auf. Wie immer. Ebenfalls wie immer wurde ein Fenster von einem anliegenden Haus aufgerissen. Eine schrille Frauenstimme keifte: "Hau ab! Das ist kein Ort für kleine Kinder! Mach, dass du verschwindest! Und komm ja nie wieder!" Ich rannte den Weg zurück, doch bevor ich auf die belebte Straße zurückkehren konnte, stolperte ich über etwas, das auf dem Boden lag. Bis jetzt hatte ich nie gesehen, was genau es war. Doch diesmal erkannte ich es: das Horn eines Einhorns. Genauer gesagt Ayanas Horn. Aber es glänzte nicht so schön golden, wie in Echt. Es war mattgrau und nur noch die Spitze glimmerte ein bisschen heller. Bald war auch sie verloschen. Ich wusste, wenn ich mich noch länger hier aufhalten würde, würde mir mein Verfolger viel näher auf den Fersen sein, als sonst. Also beschloss ich, mich zu verstecken. In der Ferne konnte ich bereits das Klacken der schnellen Schritte hören, es war jetzt Eile geboten. Schleunigst öffnete ich irgendeine Tür und ging in das Haus. Alles war schwarz und grau. Das Einzige, was Farbe hatte, war ich selbst. Doch auch ich schien hier fast nur noch aus Grautönen zu bestehen. Die Schritte kamen näher und beschleunigten sich. Sie wurden lauter und lauter, er war jetzt direkt hier. Dann verstummten sie aprubt. Er hatte mich gefunden! Vorsichtig lugte ich durch einen Schlitz in der Tür. Auf der anderen Seite starrte mich ein blutrotes Auge an.
Ein Schrei riss mich aus dem Alptraum. Mein Schrei. So nah war ich ihm noch nie gewesen.
Draußen war es stockdunkel, man sah keinen einzigen Stern und auch nicht den Mond. In der Ferne strahlte etwas Helles den Himmel an, scheinbar war im Wald ein Feuer. Es befand sich etwa dort, wo die Lichtung sein musste, die, wo Jordayn und ich gepicknickt hatten. Wie von Sinnen ging ich raus und folgte dem Licht. Ich wusste nicht, was mich dort erwarten würde. Eiskalte Luft schnürte mir den Hals zu. Beim Ausatmen konnte ich fast nichts mehr sehen, aufgrund der Wolke kalter Luft, die ich ausströmte und die meine Sicht verdeckte. Mir war eiskalt und ich zitterte stark, bemerkte es aber kaum. Ich wurde von irgendetwas angezogen, ich wusste nicht, von was.
An der Lichtung angekommen bestätigte sich meine Vermutung: Es brannte ein Feuer. Darum tanzten merkwürdig vermummte Gestalten. Ich schlich mich näher heran, sehr darauf bedacht, kein Geräusch von mir zu geben. Jetzt hörte ich sie auch. Sie lachten und sangen. Aber es klang trostlos und kalt. Offensichtlich feierten sie, wenn es auch nicht sehr fröhlich wirkte. Meine innere Stimme schrie laut in meinem Kopf. Umdrehen! Weg hier! Meine Füße gehorchten mir nicht. Etwas hielt mich hier, ließ mich nicht los.
Plötzlich drehte sich eine der Gestalten zu mir, entfernte sich von den Feiernden und kam auf mich zu. Ein Keuchen entfuhr mir und ich taumelte rückwärts, vor Schreck wie gelähmt. Eine Kapuze bedeckte fast komplett das Gesicht meines Gegenübers, nur der Mund war zu sehen. Und auf ihm lag ein gemeines Grinsen.
Mein Rachen war staubtrocken, ich konnte weder schreien noch rufen. Langsam bewegte er seine Arme nach oben. Lange dünne Finger umfassten den Saum der Kapuze, zogen sie zurück. Was mich darunter erwartete, ließ mein Blut zu Eis gefrieren. Stechend rote Augen in leeren Höhlen. Hohe Wangenknochen und aufgerissene, weiße Lippen, die sich zu bewegen begannen: "Estelle. So sieht man sich wieder. Ich dachte mir, dass du kommst."
Das Gesicht war mir stark vertraut. Ich blickte in das Antlitz meiner Selbst. Meines männlichen Selbstes. Nur die Augen waren anders. Mein Bruder.
Endlich fand ich meine Stimme wieder.
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Perfect Two
FantasyAlexis ist zufrieden mit sich und der Welt. Alles läuft so, wie sie möchte und ihr macht das Leben Spaß. Doch durch einen Autounfall verliert sie die Fähigkeit zu sprechen. Nachts und später auch tagsüber sieht sie seltsame Wesen. Nur sie kann sie s...