Kapitel 4

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Kapitel 4: Fehlgeschlagene Versuche

In der nächsten Nacht träumte ich genau dasselbe, wie in der vorherigen. Diesmal versuchte ich, den Traum zu beeinflussen. Ich versuchte, mich so umzudrehen, dass ich nicht herunterfallen würde. Damit ich sehen konnte, was mich erschreckt hatte. Leider erfolgslos. Wieder fiel ich in die Tiefe. Und wieder wachte ich schweißüberströmt auf. 

Auch blieben an diesem Tag meine Versuche zu sprechen erfolglos. Kein Wort verließ meinen Mund. Abends schlief ich erschöpft ein. Ich hatte geschrien, gerufen, geredet. Kein einziger Ton war über meine Lippen gekommen. Ich träumte von mir. Früher, lange Zeit vor dem Unfall. Meine Familie. Ich konnte mich wieder erinnern. 

Dad fuhr und Mum saß auf dem Beifahrersitz. Meine Schwester und ich saßen hinten und spielten. Ich sehe was, was du nicht siehst. Wir waren auf dem Weg zu unseren entfernten Verwandten in Kanada. Dann wurde es schwarz, sozusagen wurde die Szene ausgeblendet. Als Nächstes saßen wir zu dritt um einen großen Tannenbaum, Dad, Mum hochschwanger und ich. Elf Jahre alt. Wieder Schwarz. Ein schneebedeckter Teich. Mum und ich fütterten Enten. Dad rief uns und wir liefen zu einer kleinen Hütte und gingen rein. Drinnen war es warm und gemütlich. In einem Kamin knisterte ein Feuer. Schwarz. Ein Gesicht. Rabenschwarze Haare und dunkelgrüne Augen. Volle, eisblaue Lippen. Schneeweiße Haut. Ein wunderschöner Junge. Ich schnappte nach Luft. Ein Schwall Wasser trat in meine Lungen, es brannte. Ich hustete. Noch mehr Wasser. Überall Wasser. Der Junge sank zum Grund. Schwarz. 

Urplötzlich schreckte ich aus dem Schlaf. Keine Luft. Ich übergab mich neben das Krankenbett. Wieso war Wasser in meinen Lungen? Wieder wollte ich auf den Knopf drücken, doch etwas hielt mich zurück. Eine eiskalte Hand. Vorsichtig blickte ich auf. Dunkelgrüne Augen. Keuchend versuchte ich meine Hand zu befreien, der Griff blieb eisern. Mit der anderen Hand schlug ich auf den Knopf. Der Junge war weg, genauso schnell verschwunden, wie aufgetaucht. 

Fast direkt kam eine Krankenschwester in den Raum gestürzt und fragte mich, was los sei. Ich deutete wortlos - wie denn auch anders? - auf die Pfütze neben meinem Bett und versuchte ihr klarzumachen, dass ich geträumt hatte zu ertrinken und dann mit Wasser in den Lungenflügeln aufgewacht war. Sie schaute mich nur verständnislos an, schüttelte abwertend den Kopf und ging. Wahrscheinlich dachte sie jetzt ich wäre zu faul, um mein Erbrochenes selbst aufzuwischen. In Wirklichkeit stand ich immer noch unter Schock und meine Hand, wo der Junge zugedrückt hatte, zitterte stark. Und noch immer kriegte ich kaum Luft. 

Später, als die Besucherzeit begann, kam Mum. Ich streckte die Arme aus und umarmte sie. Sie zögerte erst und erwiderte die Umarmung dann. "Na, meine Große? Kate und John kommen nicht. Du weißt ja, dein Vater muss arbeiten und Kate ist im Kindergarten." Entschuldigend lächelte sie mich an. Nickend lächelte auch ich - ich signalisierte ihr, dass ich verstanden hatte und es in Ordnung fand. "Hier, ich habe dir ein paar Klamotten mitgebracht, vielleicht können wir dann spazieren gehen. Wenn du willst?" Wieder nickte ich und ging dann ins anliegende Bad, wo ich mich umzog. Nichts besonderes, nur Jogginghose und ein älterer Pullover. Es war gemütlich, das reichte. Mum kannte mich. 

Zusammen gingen wir in den Park hinter dem Krankenhaus. Mum legte einen Arm um mich und ich legte meinen Kopf auf ihr Schulter. Das musste seltsam aussehen, schließlich war ich zehn Zentimeter größer als sie. Aber mir war das in dem Moment egal. Ich konnte mich wieder an sie erinnern, nach dem Traum waren meine Erinnerungen alle zurückgekehrt. Wir spazierten den schmalen Weg entlang und kamen zu einem kleinen Teich. Ich keuchte. Es sah aus wie in meinem Traum. Als der Junge und ich ertrunken waren. "Was ist?", fragte Mum und ich schüttelte den Kopf. "Gefällt es dir hier nicht?" Ich zog sie zurück auf den Weg, zurück auf der sonnenbeschienenen Terasse ließ ich mich zitternd auf eine Bank sinken. Um mich herum schwirrten bunte Punkte und langsam verkleinerte sich mein Blickfeld, außen wurde es schwarz. Immer schwärzer. Ganz schwarz. 

Als ich aufwachte lag ich wieder in meinem Bett und Mum saß neben mir auf einem Stuhl. Sie hielt meine Hand. Ich setzte mich auf und schaute sie an. Ihre Mascara war verlaufen und ich deutete auf meine Augen. Sie verstand sofort und ging ins Bad. 

Eine kühler Wind blies mir in den Nacken. Die Häärchen auf meinen Armen stellten sich auf und ich sprang auf, drehte mich um. Da war er wieder. Der Junge. Wer bist du?, wollte ich fragen, als mir wieder einfiel, dass ich nicht sprechen konnte. Er grinste boshaft und kam auf mich zu. Langsam streckte er die Hand aus und ich wich zurück. 

"Was machst du denn? Du sollst im Bett liegen!", meine Mutter kam aus dem Bad. Er war weg. Von einem Moment auf den anderen.

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