Kapitel 16

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Kapitel 16: Realität

Ich schrie bis meine Stimme versagte und alles, was noch zu hören war, ein zu unterdrücken versuchtes Aufschluchzen. Immer weiter zurückweichend versuchte ich, mich zu beruhigen. Wenn ich jetzt einen hysterischen Anfall bekam, wäre es aus. Dachte ich. 

"Ganz ruhig, Schwesterherz. Ich tu dir nichts! Solange du tust, was ich sage.", seine raue Stimme ließ es mir kalt den Rücken herunterlaufen. Sie klang wie Schmirgelpapier. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich atmete nur noch stoßweise. Ich drohte in Ohnmacht zu fallen, als plötzlich alles weiß wurde. Meine Augen musste ich zukneifen, so hell wurde es. Auch mein Bruder zog sich vor Schmerz die Kapuze tief ins Gesicht. Dann schrie er und fiel zu Boden. Das Licht erschwerte es mir, herauszufinden, was ihn zu Boden geworfen hatte. Aber auch ohne viel zu sehen, konnte ich erkennen, dass es Ayana war. Laut wiehernd schien sie mitten in die Feierlichkeiten hineinzuspringen. Die Gestalten stoben auseinander, schrien und kreischten. Meine Ohren schmerzten, es klang schrecklich. Urplötzlich war es wieder ruhig und dunkel. Das Feuer war verloschen und ich saß zusammengekrümmt auf dem mit Blättern bedeckten Teppich aus Gras und Moos. 

"Was ist denn hier los?", grollte eine tiefe Stimme. Jordayns Vater, Gott sei Dank. 

"Da-da waren ga-ganz viele - Dinger!" Mir fiel keine andere Umschreibung ein, der Schock saß mir noch immer tief in den Knochen. 

"Lebende Tote. Schreckliche Wesen. Sie wurden schon seit langer, langer Zeit nicht mehr gesichtet. Ausgerechnet jetzt kehren sie zurück." Er machte eine Pause, atmete einmal tief durch. "Komm, ich bring dich zurück. Du kriegst erstmal einen Tee und dann sehen wir weiter." 

Ich versuchte aufzustehen, aber meine Beine zitterten so stark, dass sie unter mir wegknickten. Jordayns Vater seufzte und sanfte Hände hoben mich hoch. Das leichte Hin- und Her-Schaukeln machte mich schläfrig, dämpfte den Schock. 

Als wir den Palast betraten, hatte ich mich schon wieder unter Kontrolle. "Es ist okay, es geht wieder.", sagte ich mit leichtem Nachdruck. Sofort ließ er mich herunter und ich folgte ihm dann durch viele verschiedene Flure. Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, den Weg genauer zu studieren und ihn mir zu merken. 

Noch immer war ich geschockt, aber der heiße Tee tat seine Wirkung. Zumindest wärmte er mich wieder auf. Nach einiger Zeit tauchte Jordayn auf und setzte sich zu mir. Sein Vater verabschiedete sich, er war müde. Auch die Köchin, die mir freundlich sagte, es sei noch Tee in einer Kanne auf dem Tisch, verließ den Raum, um schlafen zu gehen. Jordayn und ich waren alleine. Wir redeten nicht: Ich trank Tee und wärmte mich am offenen Feuer auf und er saß daneben und starrte in die Funken sprühenden Flammen. "Warum gehst du nicht auch wieder schlafen?", fragte ich leise. 

"Ich habe Vater versprochen, auf dich aufzupassen. In dieser Nacht habe ich meine Pflicht bereits vernachlässigt. Das passiert mir ganz bestimmt nicht noch einmal." Und ich hatte gehofft, er wäre freiwillig hier, damit ich nicht allein war. 

Lange Zeit schwiegen wir, bis er plötzlich fragte: "Was ist da passiert?" 

Ich schluckte. Zögernd begann ich zu erzählen. Ich schilderte ihm die Geschehnisse, angefangen bei meinem Alptraum, der ähnlich wie die war, die ich füher immer gehabt hatte, nur diesmal hatte ich herausgefunden, wer mich verfolgte: mein Bruder. Er verzog keine Miene und wir schwiegen wieder. 

Er stand auf, setzte sich wieder. Danach stand er wieder auf und meinte: "Hast du was dagegen, heute bei mir zu schlafen? Meine Augen fallen jeden Moment zu und ich möchte Vater nicht enttäuschen, indem du wieder irgendwo rumstreunst." Was blieb mir anderes übrig, als zu nicken? Nichts. Eingepackt in eine dicke Decke und die dampfende Tasse Tee in der Hand, folgte ich ihm. 

Sein Zimmer war nicht so groß, wie ich erwartet hatte. Links von der Tür stand ein riesiges Bücherregal an der Wand und der davor stehende Schreibtisch wirkte im Gegensatz dazu winzig. Eine kleine Lampe erhellte die Schreibfläche, auf der ein aufgeschlagenes Buch lag. Interessiert wollte ich darauf zugehen und es mir anschauen, als er es zuklappte und die Lampe löschte. Ich zuckte mit den Schultern und sah mich dann einfach weiter um, ungestört des leicht erbosten Blickes seinerseits. Gegenüber der Tür war eine große Glasfront, die Blick auf den Wald und einen weit enfernten Berg bot. Mir fiel auf, dass man von hier aus auch das Zimmer sehen konnte, wo ich eben noch gewesen war. Ich dachte mir nichts weiter dabei und ging zu einem kleinen Sofa auf der rechten Seite der Tür. Es sah weich und gemütlich aus und als ich mich darauflegte, war dem so. Erschöpft lag ich lange wach. Zwar hatte ich die Augen geschlossen und wirkte äußerlich ganz ruhig, doch innerlich wirbelten meine Gedanken nur so durcheinander. 

Ich lag noch immer wach, als am Horizont schon ein heller Streifen sichtbar wurde. Langsam wurde es Tag und die Sonne ging auf. Die ganze Nacht hatte ich kein Auge zugetan. Hoffentlich würden wir heute herausfinden, was mein Bruder wollte und wieso er plötzlich, nach seinem Verschwinden, wieder auftauchte. 

Mein Bauch knurrte leise, ich hatte nicht viel gegessen beim gestrigen Picknick. Und das war auch schon alles gewesen. Auf leisen Sohlen machte ich mich auf den Weg zur Küche, den Weg kannte ich. Die Tür von Jordayns Zimmer knarrte laut, als ich sie zuzog, doch niemand schien aufzuwachen, alles blieb still und friedlich. Ich schlich weiter und kam schließlich an meinem Ziel an. Die Köchin Terezy, die ich ja gestern schon kennengelernt hatte, lachte herzlich und bereitete mir ein Frühstück. Obwohl ich gesagt hatte, ein bisschen würde reichen, trugen mehrere Bedienstete jeweils zwei große silberne Platten herein und stellten sie auf dem Tisch ab. Kleinlaut murmelte ich "Danke!" und stürzte mich auf das Essen. 

Ich stöhnte, als ich mich zurücklehnte. Das war wohl ein bisschen zuviel gewesen! Bevor ich Jordayn weckte, ging ich in das Zimmer mit dem Kleiderschrank. Heute hatte mich eine Leichtigkeit gepackt, von der ich nicht wusste, woher sie kam. Mit einem seligen Lächeln im Gesicht suchte ich mir ein schlichtes dunkelgrünes Kleid aus, das so aussah, als ob es für den Herbst gemacht war. Und tatsächlich, es wärmte meinen Körper. 

Zurück in Jordayns Zimmer, lief ich zu seinem Bett, um ihn wachzurütteln. Als ich in sein Gesicht sah und die dunklen Augenringe bemerkte, hielt ich mitten in der Bewegung inne. Ich ließ ihn schlafen und ging nach draußen zu den Stallungen. Auf der Suche nach Ayana. Schließlich musste ich mich noch bei ihr bedanken. Doch ich fand sie nicht. 

Eine halbe Stunde lief ich tatenlos herum und versuchte, mich mit irgendetwas zu beschäftigen, um nicht an das zu denken, was gestern geschehen war. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und ging in das private Musikzimmer. Dort stand ein großer weißer Flügel und ich setzte mich an ihn. Bedächtig glitten meine Finger über die Tasten und eine traurige Melodie erklang. Als ich merkte, dass ich weinte, sagte ich zu mir selbst: "Wilkommen in der Wirklichkeit." Die Melodie klang leise aus. 

"Estelle."

Perfect TwoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt