Kapitel 22: „Du kleine Schlampe"

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14. Juni 2020

Michèles Sicht:
Ich muss hier raus. Hastig lasse ich die Hand meiner besten Freundin los und stürme aus dem Saal. Verzweifelt lasse ich mich draußen auf einen Stein hinter dem Gebäude fallen. Vor lauter Überforderung laufen Tränen über meine Wange und ich weiß nicht, wohin mit meinen Gedanken.
Nach einer Weile habe ich dann zumindest wieder meinen Körper unter Kontrolle, aber meine Gedanken sprudeln weiterhin über. Luca hat sich damals mit der Begründung von mir getrennt, dass es ihm alles zu viel wird und dass er sich erstmal selbst finden will. Ich habe damals die Welt nicht mehr verstanden und mir ging es viele Wochen echt nicht gut. Natürlich habe ich mir auch den Kopf darüber zerbrochen, ob Christina zu seiner Entscheidung beigetragen hat oder ob sie sogar der Grund war. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir einfach eingeredet, dass es unmöglich ist, sich innerhalb so kurzer Zeit in eine andere Person zu verlieben. Die ganze Sache war einfach besser für mich zu ertragen, wenn ich Lucas Aussage, es liege an ihm, glaube. Dass mir eine andere Frau meinen Freund ausgespannt hat, wollte ich nicht wahr haben. Obwohl es ja eigentlich offensichtlich war. Ich wollte es nur nicht wahr haben. So wie er sie von Anfang an angesehen hat, hat er mich nie angesehen.
Nach ein paar Minuten, vielleicht war es auch deutlich länger, kommen zwei meiner Freundinnen auf mich zu. „Hey.... alles okay bei dir?", fragt Jeanine vorsichtig. „Lasst mich bitte einfach in Ruhe.... ich komme schon wieder rein.", weise ich sie zurück. „Wenn wir wiederkommen sollen, ruf uns an!", verabschieden sie sich wieder nach drinnen.
Langsam aber sicher formen sich meine Hände zu Fäusten und meine Trauer schlägt in Wut um. Wut auf Luca, da er mich angelogen hat. Von wegen er muss sich selbst finden. Wenn man doch in unserem Alter schon länger in einer Beziehung ist, dann kann man sich doch nichts Schöneres vorstellen als in zehn Jahren immer noch mit dieser Person zusammen zu sein und vielleicht eine Familie zu gründen. So langsam wird mir klar, dass seine Entscheidung auch mit seinen Gefühlen für mich zusammengegangen haben muss.
Aber auch Wut auf Christina. Diese kleine froschgesichtige Schlampe. Schon von der ersten Minute an hat sie sich an Luca rangeschmissen. Ich habe ihr dieses scheinheilige Getue noch nie abgekauft, im Gegensatz zu Luca.

Christinas Sicht:
Die Party ist echt super! Ich habe schon ein paar von Lucas Freunden kennengelernt und finde sie alle wahnsinnig nett. Gerade stehe ich an der Bar um mir meinen vierten Cocktail zu bestellen, der die Wirkung der vorangegangenen drei sicher nochmal verstärken wird. Aber da ich ja von Alkohol hauptsächlich anhänglich werde und hier ja mittlerweile alle von Luca und mir wissen, soll's mir recht sein. Ich bedanke mich bei der Barkeeperin für meinen leckern Mojito und gehe zurück zu Luca, der mit ein paar Freunden an einem Stehtisch lehnt. „Der sieht lecker aus! Gib mal nen Schluck!", nimmt Luca mit mein Glas aus der Hand. „Ey das ist meiner!", versuche ich mich vergeblich zu wehren. Luca gibt dann schließlich doch nach und widmet sich wieder sieben Bier. Ein paar Songs später haben wir ausgetrunken. Anschließend bringen wir unsere Gläser zurück zur Theke und auf dem Weg dorthin spüre ich jetzt deutlich den Alkohol: Langsam aber sicher verschwindet die Schärfe in meinem Sichtfeld und ich muss mich echt konzentrieren, mich vernünftig zu benehmen. Auch Luca neben mir scheint das bemerkt zu haben. „Naa schon voll?", fragt er mich mit einem Augenzwinkern. Ich boxe ihm leicht gegen die Brust. „Lass mich doch! Du bist doch auch schon angetrunken!", verteidige ich mich. „Ich merke auch schon ordentlich was!", gibt Luca zu. Dann lehnt er sich zu meinem Gesicht runter und flüstert: „Ich glaube ich brauche wen, der auf mich aufpasst!" Zeitgleich nimmt er meine Hand und verschränkt unsere Finger. Da ich durch den Alkohol nochmal stärker auf Lucas Nähe reagiere, kann ich mich nicht bremsen und gebe ihm einen Kuss. Er strahlt mich an. „Erweist du mir die Ehre?", fragt er und deutet auf die Tanzfläche, auf der sich mittlerweile schon ziemlich viele Leute tummeln. „Nichts lieber als das!", stimme ich zu und ziehe Luca an der Hand hinter mir her in Richtung der Fläche.
Und wie das neunmal ist, kommt das eine zum anderen. Kaum haben wir ein freies Plätzchen auf der Tanzfläche gefunden, spüre ich zwei Hände von hinten auf meiner Hüfte. Luca stehe so dicht hinter mir, dass ich jede seiner Bewegungen spüren kann. Kurzerhand tanze ich also mit extremer Betonung auf meinen Hüften und spüre Lucas sanfte Hände. Hin und wieder wandern diese auch etwas tiefer, was mich ein starkes Kribbeln verspüren lässt.

Michèles Sicht:
Was ist das denn bitte?! Vorbei paar Minuten bin ich wieder in den Saal gekommen, nachdem ich mich vorerst etwas beruhigt hatte. Und jetzt sehe ich das: Mein Ex am tanzen mit dieser abartigen Christina. Und wie. Warum reist er ihr nicht direkt das Kleid vom Leib?! Sie streckt ihm aber auch ihren Arsch entgegen wie es schlimmer nicht mehr geht.
Kurz stehe ich wie versteinert da und kann mich kaum bewegen. Ein paar Atemzüge später  kommt mein Gehirn endlich den Eindrücken meines Auges hinterher: Eigentlich sollte ich jetzt an Christinas stelle sein! Sie hat seich einfach genommen, was mir gehört.
Ich weiß garnicht recht, wie mir geschieht. Ich bin wütend. Traurig. Eifersüchtig. Es bricht mir das Herz, Luca so glücklich mit ihr zu sehen. Er lächelt so süß und schon vermisse ich ihn wieder. Ob er mich überhaupt schon gesehen hat? Naja ist ja auch egal. Eins ist mir klar: Meine Gefühle für ihn sind immer noch wie am ersten Tag. Ich will ihn mit wiederholen! Ich weiß, ich bin betrunken, aber ich spüre, dass das gerade nicht nur so eine alkoholbedingte Stimmungschwankung ist. Tief in mir drin schlägt mein zerbrochenes Herz immer noch für Luca.
Nach einer Weile beobachte ich, wie Luca diese Nullnummer an der Hand nach draußen zieht. Das ist meine Chance! In sicherem Abstand folge ich den beiden nach draußen.

Lucas Sicht:
„Ey lass das!", sehe ich Christian an, die auf meinem Schoß sitzt und meinen Bauch kitzelt. Wir sind kurz vor die Tür gegangen, um etwas Luft zu schnappen. Vielleicht war das auch nur ein Vorwand, um an einen Ort zu gehen, wo wir ungestört sind. Denn irgendwo bin ich doch auch nur ein Mann. So wie wir eben getanzt haben, da muss ich jetzt einfach kurz mit ihr allein sein. Also sitzen wir jetzt hier, draußen im Dunkeln hinter einer paar alten Steinen. Ich sitze auf einer Mauer und Christina seitlich auf meinem Schoß. Mittlerweile ist es draußen so kalt geworden, dass mein Atem etwas Rauch hinterlässt. Doch innerlich ist mir alles andere als kalt. Christina sucht durch den Alkohol noch mehr Nähe als sonst. Mit einem heißen Blick guckt sie mich durch ihre braunen Augen an und drückt schließlich ihre Lippen auf meine. Sie beißt mir verführerisch auf Unterlippe, worauf sich  meine Hand in ihren Ausschnitt verirrt. Sie vergräbt ihre Hände erst in meinen Haaren, ehe sie sich an meine Nacken festkrallt und den Kuss noch intensiviert.

„Du kleine Schlampe!", erschüttert uns plötzlich eine Stimme von der Seite. Sofort erkenne ich wer dort steht und mir läuft es eiskalt den Rücken herunter. „Michèle...", mehr bekomme ich nicht heraus. Meine Hand, die vor Schreck immer noch in Christinas Ausschnitt steckt, bemerkt wie ihr Herz vor Angst anfängt zu rasen. Schnell nehme ich ihre Hände und verschränke unsere Finger miteinander.
„Wie konntest du mir das antun? Du hast meine glückliche Beziehung kaputt gemacht. Meine Zukunft!", wirft Michèle Christina entschlossen an den Kopf. Ein paar Sekunden traut sich keiner etwas zu sagen. Dann macht Michèle auf dem Absatz kehrt und geht mit gesenktem Kopf wieder Richtung Saal.
„Was macht die denn hier?", fragt Christina ängstlich. „Da sie ja auch hier in Bern wohnt, gibt es einige Überschneidungen in unserem Freundeskreis.", erwidere ich. Christina sieht mich an. In ihrem Blick sehe ich Angst, aber auch Entschlossenheit. „Woher nimmt sie sich das Recht, mich Schlampe zu nennen?!", beschwert sie sich schließlich. „Ganz ruhig.", setzte ich an und fahre ich sanft über die Wange. „Für Michèle war die Trennung glaube ich noch viel härter als für mich. Ich kenne sie und weiß, dass sie noch Gefühle für mich hat. Hör nicht auf dass, was sie sagt. Sie ist sehr direkt und ausserdem stimmt das ja nichtmal. Du bist die tollste Frau, die es gibt. Ich liebe dich!", versuche ich Christina etwas zu besänftigen, die immer noch ziemlich verkrampft auf meinem Schoß hockt. „Und was ist wenn wir ihr jetzt öfters begegnen? Ich meine du hast ja gesagt, dass ich sogar im gleichen Teil der Stadt wohnt...", sorgt sie sich. „Ich hoffe, dass wird nicht passieren. Denn das könnte Ärger geben..."

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