New York

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Seit einigen Tagen fiel mir das Aufstehen nicht mehr so schwer. Im Gegenteil, ich konnte es kaum erwarten, dass Kennedy kam, um den Tag mit mir zu verbringen.

Elaina half mir in den Rollstuhl und brachte mich nach draußen auf die Terrasse. „Bis heute Abend, Theo."
Sie verabschiedete sich noch von meiner Mutter, die gerade nach draußen kam und sich zu mir setzte, bevor sie ging.

„Theodore. Ich muss mit dir etwas besprechen. Es ist wichtig." Ihr Gesicht ließ darauf schließen, dass sie mit schlechten News kam.
„Was ist los? Schon ein Heim für mich gefunden?", schoss es aus mir heraus. Nervös wischte ich mit meinen Handflächen über meine Schenkel und versuchte ihrem Blick auszuweichen.

„Nein. Schatz. Du wirst nicht in ein Heim abgeschoben. Vergiss das endlich! Das würde ich nie zulassen. Es geht um Dad."

Erst jetzt hob ich meinen Blick und sah sie an. Dad? „Wann kommt er aus New York zurück?" Insgeheim wusste ich, dass er nicht zurück kommen würde. Der letzte Streit zwischen ihnen lag nicht lange zurück und gestern hatte ich sie nachts Schluchzen hören, nachdem sie mit ihm telefoniert hatte.

„Er wird in New York bleiben. Gestern hat er mir seinen Entschluss mehr als deutlich gemacht." Sie sah traurig aus - versuchte vor mir stark zu wirken; nicht zu weinen.

„Ist es wegen mir? Will er nicht zurück kommen, weil du mich nicht ins Heim geben willst?"

„Theodore! Nein! Nein, denk so etwas nicht. Es lief schon seit langem nicht gut zwischen uns. Wir haben uns auseinander gelebt und irgendwann, den Weg zurück nicht mehr gefunden."

Warum fühlte ich mich so schlecht? Mein Vater und ich hatten schon seit langer Zeit keinen Draht mehr zueinander gehabt. Er akzeptierte mich einfach nicht so, wie ich eben war.

„Wir werden in ein kleineres Haus ziehen müssen, wenn es soweit ist. Vielleicht musst du die Schule wechseln. Genau kann ich es dir nicht sagen."

Die Schule wechseln. Beinahe hatte ich es vergessen. Das ich demnächst zurück zur Schule musste. Wie es sein würde, all die Leute wieder zu sehen, die mich noch aus meinem früheren Leben mit Beinen kannten, wollte ich mir nicht mal vorstellen. Ich empfand Scham. So sollten sie mich nicht sehen. Gefesselt an diesen Stuhl, der ab jetzt meine Welt sein sollte. Vielleicht kam da ein Schulwechsel gerade richtig.

„Ich will auf mein Zimmer." Umständlich löste ich die Feststellbremse und führ zurück, um zu drehen und ins Haus zu rollen.

„Theodore? Warte doch. Sprich mit mir!"

Ich wollte mit niemandem sprechen. Jetzt musste ich erst mal alleine sein. Nur ich und meine Gedanken.
Mein gesamtes Leben zerfiel in seine Bestandteile. Erst meine Beine. Jetzt mein Vater. Was würde mir als Nächstes genommen werden? Ich dachte an die Badeperlen und zunehmend gefiel mir der Gedanke, das bald die letzten sich im Wasser auflösten und ich somit endlich Erlösung im weiten Nichts finden würde.

Es klopfte nicht mal mehr. Kennedy kam einfach herein und warf sich zu mir aufs Bett.

„Hey? Kannst du nicht aufpassen?", fuhr ich ihn harsch an. Störte er einfach so mein Wettstarren, aus dem Fenster. Heute hätte ich meinen Rekord gebrochen, jede Wette.

„Heute wieder Scheißlaune? Was ist los? Wieder traurig, weil du die hier nicht bewegen kannst?" Er schnippte mit dem Finger gegen mein Knie und ich schenkte ihm einen erzürnten Blick.

„Wenn es dir nichts ausmacht, verschieben wir unsern Ausflug heute. Ich bin nicht in Stimmung."

Kennedy legte sich auf den Rücken, Steiß seine Schuhe von den Füßen und machte es sich bequem in dem er seine Arme hinter seinem Nacken verschränkte und fröhlich grinste.

„Was ist so lustig? Und überhaupt - raus aus meinem Bett! Jedesmal habe ich Krümel im Rücken!", fauchte ich und drückte mit meiner Hand gegen seine Seite. Doch dieser Muskelberg lachte bloß und meine Augen rollten.

„Weißt du was? Du kennst mich doch mittlerweile. Denkst du echt, dass ich dich heute einfach so in Ruhe lasse? Damit du deinen unsinnigen Gedanken nachhängen kannst? Nicht mit mir, Kleiner." Er lächelte mich auf diese unbeschreibliche Weise an, dass ich nicht anders konnte, als mich zurück gegen die Rückwand meines Betts sinken zu lassen und Ruhe zu geben. Gegen diesen Klotz hatte ich eh keine Chance, das hatte ich bereits begriffen.

Six reasons to liveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt