Einsicht

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An diesem Morgen war es verdächtig still im Haus. Meine Mutter war schon sehr früh zur Arbeit aufgebrochen, nur eine Nachricht hing heute morgen an meinem Lampenschirm, neben meinem Bett: Bin heute früher zurück. Mum.

Ich hörte Julia ins Haus kommen. Offenbar war sie wieder genesen.
Gerade rollte ich den Flur nach unten Richtung Küche. Seit einigen Tagen hatte ich mir Gedanken über sie gemacht und war zu dem Entschluss gekommen, dass ich mich bei ihr entschuldigen musste.

Ich blieb in der Tür stehen und sah ihr zu wie sie die Einkaufstüten ausräumte und die Lebensmittel in die Schubladen und Schränke stellte.

„Für was so viel essen? Erwarten wir Besuch?", fragte ich sie. Julia sah mich nur kurz an, dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. „Julia?"
Es fiel mir nicht gerade leicht über meine plötzliche Einsicht zu sprechen, doch ich erinnerte mich an die Worte von Kenny. Alles beginnt im Kopf. Mann muss sich eben manchmal einen Ruck geben.
„Es tut mir leid, das mit dem blöden Spruch vor ein paar Tagen. I-ich ... bin manchmal einfach nicht ich selbst seit einiger Zeit. Ich wollte dich nicht damit verletzen."

Kurz wartete ich noch, ob sie mir antworten würde, doch es kam nichts von ihr. Schwer atmend setzte ich zurück, wendete meinen Rollstuhl und wollte davon rollen.

„Theodore?" Ich sah mich zu unsere Haushälterin um. „Ja?" Sie kam zu mir und umarmte mich. „Alles gute zum Geburtstag mein Junge."

Ach ja. Da war ja noch was. Ich hatte es versucht zu verdrängen, doch jetzt gerade dachte ich wieder daran. Heute war mein achtzehnter Geburtstag. „Danke Julia."

„Guten Morgen, Theodore." Es war Kennedy, der gerade zur Arbeit kam und kurz eine Tüte im Flur auf die Anrichte stellte. Dann zog er sich seine Jacke aus und kam auf mich zu.
»Alles gute zum Geburtstag, Kleiner.« Er gab mir die Hand und drückte mir die Tüte in den Schoß.

„Danke, aber ich sagte doch, ich will keine Geschenke."
Kenny lächelte und schob mich ohne zu antworten über den Flur Richtung des Sportraums. „Jetzt machen wir erst mal unsere Arbeit und dann einen kleinen Spaziergang. Wäre doch gelacht, wenn wir diesen verdammten Tag nicht herumbekommen würden."

Das waren ja ganz neue Töne. Gestern hatte er noch auf eine Party bestanden. Etwas skeptisch hob ich eine Braue, doch schwieg.

„Wie fühlst du dich mit achtzehn?" Mein privater Physiotherapeut schob mich die Straße hinunter. Unser Ziel war die Strandpromenade. Hier verbrachten wir oft Zeit, chillten in der Sonne, erzählten uns Witze und sahen den heissen Typen, in seinem Fall Mädchen, nach. „Wie mit siebzehn", kam es schnippischer als gewollte. Mein Blick folgte zwei Jungen, die mit ihrem Surfbrettern aufs Wasser zuhielten. Kurz sahen sie zu mir, wendeten ihre Blicke jedoch sofort wieder ab. Dieses Mitleid in ihren Augen. Ich hasste es!

Heute lagen wir einfach nur im warmen Sand und unterhielten uns. Kennedy erzählte mir von einem seiner früheren Patienten. Ein 27jähriger Radsportler, der nach einem Unfall fast ein Jahr lang im Rollstuhl saß, bevor er wieder laufen konnte. Seit gestern erzählte er mir ständig davon, wie viele solcher Fälle er kannte. Ich wusste, er wollte mir Hoffnung machen, doch nun machte ich seit so vielen Wochen diese Therapie und sah immer noch nicht den kleinsten Fortschritt.

„Vielleicht bin ich einfach der Eine, der kein solches Glück hat. Können wir jetzt bitte das Thema wechseln? Was war in der Tüte, die du mir gegeben hast?", fragte ich und sah mich zu ihm um. Die Sonne blendete mich, so dass ich meine Hand über meine Augen hielt, um ihn erkennen zu können. Er grinste nur. „Na sag schon!"

„Warum hast du nicht hineingeschaut, wenn du so neugierig bist?" Er konnte so ein Geheimniskrämer sein.

„Weil ich sagte, ich will keine Geschenke und du einfach nicht auf das hören kannst, was man dir sagt", gab ich genervt von mir und sah zu einem kleinen Mädchen, dass an mir vorbei lief und an einem Eis leckte.

Ich spürte, wie Kennedy sich neben mir im Sand herum drehte und sich auf seinen Handballen abstürzte. Das er mich nachdenklich ansah, merkte ich sofort, jedoch traute ich mich nicht in seine Augen zu schauen. Er hätte sofort bemerkt, dass ich immer noch mit meinen Gefühlen für ihn kämpfte.

„Später machst du es auf. Dann siehst du es. Es ist nichts besonderes. Hat mich nicht mal etwas gekostet. Ich schwöre."

Seine Hand spielte mit dem Sand, den er zwischen seinen gebräunten Fingern hindurch rieseln ließ und immer noch lag sein Blick auf mir. Besser gesagt, auf meinem Gesicht.

„Was guckst du mich so an?", fragte ich und überwand mich ihn doch anzuschauen. Scheiße! Warum musste er auch so verdammt gut aussehen? Meine Augen wanderten von seinen Augen zu seinen Lippen und wieder hinauf zu seinen Augen.

„Du bist mein härtester Fall. Weißt du das?"

Wie er dies sagte, als wäre das so verwunderlich. Ich konnte eine ziemliche Herausforderung sein, das war kein Geheimnis. Schon in meinem Schwimmteam liebte ich den Ton anzugeben. Ich liebte es, mich Herausforderungen zu stellen und sie zu meistern.

Gerade wurde mir mal wieder etwas bewusste. Und er war der Auslöser dafür, wie immer. Er kam, sagte was und sofort veränderte sich etwas in mir.

„Das musst du mir schon näher erklären", forderte ich ihn auf. So wie er mich gerade ansah, mit diesem Blick. Konnte ich mich wirklich so täuschen?

Ich schluckte und leckte mir über die Lippen. Plötzlich war es greifbar, diese Anspannung, wie kurz vor dem ersten Kuss. Ich konnte mich nicht so täuschen, das war unmöglich.

Er kam näher und mein Herz schlug mit einem Mal Alarm! Doch bevor sein Mund den meinen erreichte, stoppte er und seine Augen wanderten ruhelos über mein Gesicht. Dann lächelte er und legte sich zurück in den Sand.

„Ich sollte dich einfach härter rann nehmen. Wahrscheinlich bin ich viel zu nachsichtig mit dir, Janson."

Was? Wie? Warum?

Na wendigstes nannte er mich nicht mehr Kleiner.

Six reasons to liveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt