4 - Blick in die Vergangenheit

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Blick in die Vergangenheit

Helena blickte sich um. Die kleine Kirche am Dorfrand war überfüllt. Alle Bewohner waren gekommen. Alle, außer ihrer Mutter. Sie hatte sich im Zimmer eingeschlossen und öffnete die Türe nicht mehr. Nach Stunde hatte Tante Marina es aufgegeben, ihre Schwester aus dem Zimmer zu locken und dazu zu überreden, zu kommen. Sie war zusammengebrochen und hatte nur noch geweint. Helenas Geschwister hatten ebenfalls angefangen zu weinen und sie selbst hatte nicht gewusst, wie sie handeln sollte.

Mit schweren Schritten ging sie über den steinigen Weg, welcher von hohen Fichten geschmückt war, und die Kälte drang durch ihre Kleidung bis auf ihre nackte Haut. Das Kleid hatte im kalten Nachtwind nicht trocknen wollen und klebte so noch feucht an ihrem Körper. Um sich etwas zu wärmen, hatte sie einen Wollenpullover über das Wollenkleid gezogen und war in die dicken Schuhe ihrer Mutter geschlüpft. Jeder Schritt fühlte sich schwer und überwindbar an. Mit ausgetrocknetem Mund kam sie bei der kleinen Kirche an.

Tante Marina hatte ihre Haare zu einem strengen Knoten gebunden und ihr Gesicht mit einem schwarzen Schleier verdeckt, so dass man ihre Tränen nicht sehen konnte, welche ihr kalt über die Wange rannen. Sie lief dicht hinter Helena und klammerte sich an ihren Stock. Sie wirkte um Jahre gealtert.

Helena starrte zum Eingang, wo man nur in trauernde Gesichter blickte. Mit einmal wurde ihr schlagartig klar, dass es die Wahrheit war. Ihr kleiner Bruder und ihr Cousin würden nie wieder zurückkommen. Sie spürte, wie der Schmerz eine tiefe Wunde in ihr schon blutendes Herz hinzufügte und das Brennen tief in ihr drin, während sie versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken. Blinzelnd drängte sie die Tränen hinter ihre Lider und atmete tief durch. Heute würde sie für ihren Cousin und ihren kleinen Bruder stark sein.

In der Menschenmenge entdeckte sie Phillip. Er hatte einen grauen Pullover an und einen schwarzen Hut aufgesetzt, den er von seinem Vater geerbt hatte. Mit seiner gekrümmten Haltung und dem starren Blick wirkte er wie eine traurige Statue, die sich nicht mehr getraute in den Himmel zu sehen und dem Sonnenlicht zu begegnen.

Sie überlegte sich gerade, ob sie zu ihm hinüber gehen sollte, als er seinen Blick hob und ihrem begegnete. Verlegen wandte sie ihren Blick ab und war zu gleich wütend auf sich selbst, dass sie noch immer diese dämlichen Gefühle für ihn hegte wie vor fünf Jahren. Noch immer wütend auf sich selbst, merkte sie nicht, dass er zu ihr hinübergekommen war. Erst als er sich leicht räusperte und auf ihre Schulter tippte, schreckte sie zusammen.

Er zwang sich zu einem liebvollen Lächeln und strich sich seine Haare unter den Hut.

„Helena, wie geht es dir?"

Sie fing an mit ihrem Saum zu spielen und versuchte das Kribbeln in ihrem Bauch zu unterdrücken. Du kannst jetzt nicht glücklich sein, wies sie sich zu Recht und blickte kurz zu Phillip auf.

„Den Umständen entsprechend", antwortete sie förmlich und hielt einige Sekunden inne. „Und dir?"

Er zuckte mit den Schultern. „So wie man sich eben fühlt, wenn man hier steht."

Sie nickte und er griff nach ihrer Hand. Am liebsten hätte sie sich dafür verdammt, dass es sich so gut anfühlte.

„Du bist ein tolles Mädchen", sagte er und strich mit seinen Fingern über ihre Handfläche, wo durch er tausend Feuer entfachte. „Ich bin unglaublich froh, dich zu haben. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde. Du musst wissen, dass du etwas Besonderes für mich bist. Ohne dich will ich da nicht rein."

Helena versuchte gefasst zu wirken, doch sie hatte das Gefühl, dass ihr ihre Gesichtszüge komplett entglitten waren. „Ich...", stotterte sie,"...ich weiß auch nicht, was ich ohne dich tun würde."

Black BirdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt