33 - Monster

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Monster



Helena stand im Garten und blickte über die Beete. Es wuchsen schon einzelne Tomaten, ein paar Blumen ebenfalls und Bohnen sprossen auch. Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen und die meisten Arbeiter lagen in ihren Betten und ruhten sich aus. Phillip und die Anderen hatten sich ebenfalls in ihre Zimmer zurückgezogen und machten eine kleine Pause. Innerhalb der letzten Tage war es um einiges wärmer geworden und einige der Dorfbewohner hatten schon einen Sonnenstich. Hier war es sehr viel wärmer als im Norden und keiner hatte damit gerechnet, dass die Hitze so stark steigen würde.

Sie setzte sich auf den erdigen Boden und blickte zu dem Brunnen. Um den Brunnen wuchsen Mimosen und kleine Schmetterlinge tanzten durch die Luft. Die Luft war voller Düfte und Rosmarin wucherte um das Haus. Wenn sie ehrlich war, wollte sie für immer hier bleiben. Es erschien ihr so friedlich. Jedenfalls friedlicher, als in ihrem Dorf.

Gestern hatte Offizier Claudios ihre Strafe verkündigt. Da man nicht nachweisen konnte, dass sie die Prinzessin entführt hatten, wurden nur die Oberhäupte aus dem Dorf verbannt. Der Rest musste für einen ganzen halben Sommer gemeinnützige Arbeit verrichten. Sie war so erleichtert gewesen. Die Einzigen, die diese Stadt verlassen mussten, waren die Nonnen. Die meisten Bewohner waren über deren Schicksal erleichtert. Natürlich hatten die Nonnen viel für unser Dorf getan, doch sie hatten ebenso viel Dunkles getan, doch da sie Gottes rechte Hand waren, hatte sich niemand getraut, etwas dagegen zu sagen. Und nun wurden sie dafür bestraft.

Ein Schmetterling mit braunen Flügeln und lauter Punkten liess sich auf ihrer ausgestreckten Hand nieder und sie beobachteten ihn lächelnd. Die letzten Nächte hatte sie zum ersten Mal wirklich gut schlafen können. Die Nächte davor waren traumlose Nächte gewesen. In diesem Moment war ihr nichts lieber gewesen, als das, doch jetzt waren ihre Träume wieder die liebevollen Träume, die sie nicht in Angst und Schrecken versetzten.

Der Schmetterling flatterte wieder davon und sie schloss die Augen, um die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht zu geniessen. Sie hatte sich in letzter Zeit nach nichts Sehnlicherem gesehnt, als endlich wieder entspannt sein zu können und sich sicher zu fühlen. Trotz ihres Anfalls, tat sie es. Hier fühlte sie sich sicher.

Der Traum, der nach dem Anfall gefolgt war, verfolgte sie weiterhin, doch er schien immer mehr zu verblassen. Es war, als wäre das nie passiert. Und so wollte sie weiterleben. So, als wäre sie nicht ein Monster.

Gerade, als sie die Augen öffnen wollte, vernahm sie etwas. Sie zuckte zusammen und riss die Augen auf. Sie war noch immer alleine im Garten.

„Du bist ein Monster", wisperte es und sie starrte in die Richtung des Brunnes. Die Stimme kam aus dem tiefen Schacht. Plötzlich war die Sonne nicht mehr so warm, wie davor. Sie war auf einmal eiskalt. Sie zitterte am ganzen Körper.

Ihre Hände krallten sich in die Erde und ihr Herz raste. Sie wollte nicht wissen, was in diesem Brunnen auf sie lauerte. Sie wollte auch nicht wissen, was es ihr zu sagen hatte. Sie wollte nur noch aufstehen und davon rennen. Doch sie konnte sich nicht bewegen.

„Du wirst deine Bestimmung nie loswerden. Du wirst für immer die Mutter eines Monsters bleiben. Ein herzloses Monster. Das macht dich auch zu einem Monster", lachte die Stimme leise. „Ohne dich, würde es dieses Monster nicht geben. Du bist ganz alleine Schuld."

Sie schüttelte zitternd den Kopf. Der ganze Schmerz, von dem sie das Gefühl hatte, er wäre verschwunden, kehrte zurück. Er überrollte sie wie eine Welle und begrabte sie unter sich. Ihr Herz wurde zerrissen und der Schmerz schnitt ihr die Luft ab. Tränen liefen ihr über die Wange und sie schnappte wild nach Atem.

Das leise Kichern hallte aus dem Brunnen. Sie wollte dieser Stimme nicht mehr zuhören. Sie wollte gehen. Sie wollte sich die Ohren zuhalten und nicht mehr auf die Stimme hören.

„Willst du dich etwa vor der Wahrheit verstecken?", fragte die Stimme immer noch kichernd. „Du solltest dich nicht verstecken. Jeder hasst dich. Deine Mutter macht sich jeden Abend Vorwürfe, dass sie ein solches Monster auf die Welt gesetzt hat."

Helena wimmerte. Etwas in ihr glaubte der Stimme. Wieso war sie nur auf diese Welt gesetzt worden? Ohne sie, wäre ihr Bruder nun nicht tot. Sie zuckte zusammen und schluchzte auf.

„Siehst du, du weißt es selbst. Du weißt selbst, dass du das Leben nicht verdient hast. Wann willst du es deinem besten Freund sagen, dass du ein Monster bist? Meinst du, er wird dich immer noch so ansehen wie heute? So verständnisvoll, wenn du ihm beichtest, dass du seine Familie umgebracht hast? Du wirst nie glücklich sein. Das wird Gott nicht zu lassen. Du bist nicht mehr eines seiner Kinder", giggelte die Stimme boshaft. „Du bist nun das Kind des Teufels. Du wirst in die Hölle kommen."

Sie wollte schreien und die Stimme zum Schweigen bringen. Doch sie konnte nicht einmal mehr etwas sagen. Sie weinte und weinte. Die Stimme hatte Recht. Sie war ein Monster. Sie hatte so viele Leben auf dem Gewissen. Es wäre für jeden besser, wenn sie nicht mehr leben würden.

„Ich bin nicht hier, um dich zu bestrafen", sagte die Stimme. „Ich bin hier, um dich von deinem Leid zu befreien. Ich will dir dabei helfen, es zu beenden. Die Welt wäre ohne dich so rein. So ein viel besserer Ort."

Das stimmte. Helena verkrampfte sich, als sie erneut in Tränen ausbtrach. Sie war müde von diesem Leben. Sie war müde von diesem ganzen Leiden.

„Komm zu mir und es wird nicht weh tun", wisperte es.

Wie in Trance stand Helena. Es war, als würde ihr Verstand aussetzen und ihre Füsse ihrem eigenen Willen folgen. Ihr zerbrochenes Herz scheppterte bei jedem Schritt in ihrer Brust und die spitzen Splitter stachen ihr in ihre Brust. Es tat so weh. Sie konnte ihr warmes Blut spüren. Es waren nur noch so wenige Schritte bis zum Brunnen.

„Komm, nur noch wenige Schritten und es wird dir nicht mehr weh tun", versprach die Stimme säusselnd.

Endlich kam sie beim Brunnen an. Sie hielt sich am kalten Stein fets und blickte in die unendliche Tiefe. Unten schimmerten zwei weisse Augen. Sie blickten sie schon beinahe belustigt an.

„Komm zu mir runter und ich werde dir versprechen, der Schmerz wird nicht mehr da sein."

Es war so verlockend, über den Brunnenrand zu steigen und einfach hinter zu springen. Mit glasigen Augen starrte sie in die Tiefe und schluckte. Du bist ein Monster, sagte etwas in ihrem Kopf. Du solltest springen. Deine Mutter wäre erleichtert, wenn du nicht mehr hier bist. Die Scherben ihres Herzens bohrten sich tiefer in ihr Fleisch und hinderten sie beim Atmen. Dann erfasste sie einen Entschluss. Sie stemmte sich mit aller Kraft hoch und beugte sich über den Brunnen. Die Stimme kicherte und die Augen blickten sie auffordernd an.

„Komm zu mir."

Eine letzte Träne rollte ihr über die Wange, als sie sich nach vorne beugte und sich in die Tiefe fallen liess.

Black BirdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt