22 - Er wird kommen

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Er wird kommen

Phillip würde diese Nacht nie vergessen, in der das ganze Gasthaus aus dem Schlaf gerissen wurde. Der Schrei hatte ihn mitten in der Nacht aus seinem Albtraum gerissen. Thomas sass aufrecht in seinem Bett und starrte mit aufgerissenen Augen die Wand an. Er atmete schwer und schien noch nicht ganz draus gekommen sein, was passiert war.

Mit zitternden Finger strich sich Phillip die Schweissperlen von der Stirne und starrte zu Thomas.

„Was war das?", fragte er mit heiserer Stimme.

Thomas schüttelte langsam mit dem Kopf und blinzelte. „Ich weiss es nicht."

Er klang verstört und auch etwas ängstlich. Phillip hielt den Atem an und seine Gedanken huschten zu dem Jungen in seinen Träumen. Was wenn er wieder hier war? Er wusste nicht, weshalb er so in Panik geriet.

„Wir sollten nachschauen gehen", flüsterte Thomas, nachdem sie sich beide beruhigt hatten, und sprang aus dem Bett. „Vielleicht ist Maria etwas passiert."

Phillip biss sich auf die Lippen, bevor er ihn mit dem Namen korrigieren konnte, und rappelte sich auf. Bloss in ihren Hosen und einem leichten Nachthemd stürmten sie die drei Stockwerke nach unten. Als sie im Untersten ankamen, spürten sie schon die Kälte, die von der offenen Tür hineinströmte. Draussen peitschte noch immer der Regen und es stürmte. Alle Gäste hatten sich im schmalen Gang versammelt und wisperten miteinander. Vereinzelte Kerzen wurden angezündet, die jedoch bei dem nächsten Windstoss ausgelöscht wurden. Thomas versuchte nach vorne zu blicken. In der Dunkelheit konnte er fünf Personen ausmachen. Drei davon mussten vom Körperbau her Männer sein. Sie hatten eine schlaffe Person und ein Mädchen in schneeweissem Nachthemd in der Mitte, die beide von oben bis unten durchnässt waren. Erst als sie etwas näher waren, konnte er Anita ausmachen, die gegen den Wind ankämpfte und immer wieder zusammensackte, doch einer der Männer hinter ihr fing sie auf und stützte sie. Das Mädchen daneben wirkte wie eine Leiche. Ihre Haut war schneeweiss und ihre braunroten Haare hingen ihr in dicken Strähnen über das Gesicht, dass man sie kaum erkennen konnte. Sie war jünger als Anita und musste ohnmächtig sein, denn die Männer schienen sie beinahe zu heben, um sie gegen den Wind zu schützen. Die Gäste murmelten vor sich hin und ein paar Männer standen an der Tür, um der Gruppe draussen zu helfen, falls nötig.

Phillip stand da und konnte sich nicht bewegen. Es war nicht irgendein Mädchen. Er erkannte sie sofort. Doch obwohl sie beinahe einem Toten glich, galt seine Sorge Anita. Auf den ersten Blick hatte er ihr blutendes Knie entdeckt und ihm war aufgefallen, dass das Nachthemd, das durchsichtig an ihrem Körper klebte, zerrissen war. Ihr Mantel schützte sie kaum vor dem Regen und nur die Schuhe schienen ihren Zwecken erfüllen. Würde sie diese nicht tragen, wäre sie wahrscheinlich morgen krank. Was war passiert, dass sie hinaus gegangen war?

Die Gruppe erreichte die Türe und die Männer nahmen ihnen das Mädchen und Anita ab. Sofort stürzten sich die Frauen nach vorne und umkreisten die Beiden.

„Was ist denn bloss passiert?", fragte eine rundliche Frau aufgebracht und richtete ihre Schlafhaube zu recht.

Thomas ging sofort zu der Gruppe und bahnte sich einen Weg hindurch. Einige Frauen schüttelten verächtlich den Kopf, doch er ignorierte sie und Phillip folgte ihm. Irgendjemand schloss die Türe, als Phillip und Thomas Anita und das Mädchen erreichte. Thomas ging sofort in die Knie und legte Anita einen Arm auf die Schulter. Sie hob den Kopf. Ihr Gesicht war für ihre Hautfarbe sehr blass und sie zitterte am ganzen Körper. Phillip entdeckte an ihrem Ellenbogen Kratzer und Schrammen. Wahrscheinlich hatte sie versucht das Mädchen zu stützen, welches beinahe einen halben Kopf grösser war als sie.

Black BirdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt