19 - Der Aufbruch nach Süden

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Der Aufbruch nach Süden

Die Versammlung fand auf dem Dorfplatz statt. Die drei Nonnen standen in der Mitte, von den meisten Dorfbewohner umkreist, und hielten die Bibel in die Luft. Der Himmel war bewölkt und es war in zwischen noch kälter geworden. Die Meisten waren Heimatlose und sehnten sich nach einem neuen Zuhause. Helena stand neben Phillip in der Menge und hielt Kia auf ihrem Arm, während ihre Mutter sich an ihren linken Arm klammerte und zu zerbrechen drohte. Phillip hielt Sam auf seinem Arm und wuschelte ihm durch seine schwarzen Locken. Sam war der Einzige in der Familie, der Locken hatte. Kia hatte keine, selbst Tante Marinas Haare waren gerade gewesen. Sein Bruder dagegen hatte ebenfalls Locken gehabt. Sein Gesicht war rot vor Kälte und er wirkte müde. Phillip hielt ihn auf seinem Arm und wog ihn hin und her. Nach einer Weile war er eingeschlafen. Helena war schon lange nicht mehr so froh gewesen, Phillip bei sich zu haben. Jetzt brauchte sie ihn mehr denn zuvor.

Ihre Mutter klammerte sich mit schwachem Griff mit ihren knochigen Händen an sie und der Wind schien sie jeden Moment umzuwehen. Helena fühlte sich schuldig. Sie hatte das Gefühl, die Schuld zu tragen. Sie hätte nach der Opferung ihres Bruders für ihre Mutter da sein sollen, doch stattdessen hatte sie sich von ihr abgewandt. Wie hatte sie all die warnenden Zeichen übersehen können? Sie wandte ihren Blick wieder nach vorne und erkannte hinter den Nonnen, an einem der wenigen ganz gebliebenen Häuser Thomas mit der Fremden lehnen. Er blickte verstimmt in die Menge und hatte die Arme an der Brust verschränkt. Sein Hemd lugte ihm etwas aus der Hose und der Wind blies ihm immer wieder die Haare in das Gesicht. Maria oder Anita, Helena wusste nach Phillips Erzählung nicht wirklich, wie sie die Fremde nennen sollte, stand neben ihm in ihrem dicken grauen Wollmantel und schüttelte den Kopf über etwas, was er gesagt hatte. Ein kleiner Funken der Eifersucht entfachte sich in ihr. Selbst aus dieser Distanz war es nicht schwer ihre Schönheit auszumachen. Und sogar Phillip war ihr verfallen, auch wenn er es vor ihr nicht zugeben wollte. Sie hatte es an seinem verletzten Blick gesehen, als er ihr vom Geschehen im Wald berichtet hatte. Er hatte ihr ohne zu Wissen sein Herz geschenkt und sie hatte ihn enttäuscht. Sie biss sich auf die Lippen und drehte den Kopf zu Phillip. Und trotzdem schmachtet er ihr nach, dachte sie, als sie seinen Blick bemerkte und hätte am liebsten irgendetwas Abwertendes gesagt, doch sie verbiss es sich.

Die Dünne der Nonnen räusperte sich und erhob die Hand. Sofort schwiegen alle und nur wenige wisperten etwas vor sich hin. Sie lächelte ein breites Lächeln und verzog dabei ihr kantiges Gesicht unnatürlich. Sie wirkte eher einschüchternd, als erfreut.

Phillip sah zu Helena hinüber und legte ihr einen fürsorglichen Arm um die Schulter, wobei sie leicht zusammen zuckte und sich verlegen eine Haarsträhne hinter das Ohr strich.

„Liebe Bürger", hallte die kräftige Stimme der Mittleren über den Platz und Phillip drehte den Kopf wieder nach vorne, ohne mitzubekommen, wie Helena rot anlief. „Wie ihr wahrscheinlich alle mitbekommen habt, fand man unseren geliebten Bürgermeister unter seinem eigenen Hause begraben samt seiner Familie. Ein schreckliches Schicksal, doch Gott wird ihm und seiner Familie den Eintritt in den Himmel gewähren für all das, was er für dieses Dorf getan hat. Trotzdem sollten wir für ihn und seine Familie beten. Er war ein wundervoller Mann und Bürgermeister. Er sollte in Ruhe frieden."

Helena senkte den Kopf. Sie erinnerte sich, wie sie am Morgen Phillip gefunden hatte und eine halbe Stunde später war Ian durch die Türe gestürmt. Er hatte die Familie des Bürgermeisters blutüberströmt unter der Ruine ihres Hauses gefunden. Der Schädel des kleinen Mädchens war in zwei Teile gespalten worden, das hatte Phillip ihr erzählt, als sie danach gefragt hatte. Frida war ein freundliches Mädchen gewesen, sie hatte sich zu allem ihre eigene Meinung gebildet und nie vorschnell über andere geurteilt. Mit ihren zehn Jahren war sie ziemlich intelligent gewesen. Als die Tochter des Bürgermeisters hatte sie die Gelegenheit gehabt, das Lesen und Schreiben zu lernen. Sie war weitaus intelligenter gewesen, als die anderen Kinder in diesem Dorf. Helena erinnerte sich an den Morgen, an dem sie plötzlich vor ihrer Haustür gestanden war mit einem riesigen Korb mit Früchten und einem dünn gebundenen Buch. Frida war nie ein schüchternes Mädchen gewesen, so hatte sie ihr das Buch entgegengestreckt und ihr angeboten, ihr das Lesen und Schreiben beizubringen. Es war der Morgen nach dem Tod ihres Bruders und Cousins gewesen. Die meisten Leute hatten sie gemieden, doch Frida hatte sich nie für die Meinungen anderer interessiert. So hatte sie ihr das Lesen und Schreiben beigebracht, bis sie vor einigen Tagen erkrankt war und man feststellte, dass sie das Sonnenlicht nicht ertrug. Der Bürgermeister sperrte seine Tochter zu ihrem eigenen Schutz in ihrem Zimmer ein und niemand durfte sie besuchen. Manchmal hatte Helena sie am Fenster gesehen, wenn sie hinausgestarrt hatte, und festgestellt, wie sehr sie sich verändert hatte. Sie sah krank aus, ihre Haut war schneeweiss und selbst ihre roten Haare hatte ihr besonderes Leuchten verloren. Frida hatte so verloren und niedergeschlagen ausgesehen. Das war das letzte Mal gewesen, dass Helena sie lebend gesehen hatte und jetzt wurde ihr Schädel gespalten. Frida war nicht einmal elf Jahre alt geworden. Sie schluckte hart und Tränen stiegen in ihre Augen.

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