50 - Die Menschlichkeit

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Die Menschlichkeit

Er hatte nie an ihr gezweifelt, doch er war erstaunt gewesen, als sie ihn gerufen hatte. Erst war ihre Stimme bloss ein leises Flüstern gewesen, das sich jedoch immer stärker erhob und schliesslich durch den ganzen Wald gehallt war. Ihr Ruf war wie Musik in seinen Ohren gewesen. Der Ruf hatte ihn erstaunlicherweise mitten am Tag erreichte. Er hatte nicht gedacht, dass sie es sich getrauen würde, ihn während der strahlenden Sonne zu rufen, doch wie es scheint, hatte er sich wie ein weiteres Mal geirrt.

Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er in seinem neuen Körper den Weg aus dem Wald hinab zur Stadt lief. Er fühlte sich frei und gut. Ein Gefühl, was er schon seit Jahren vergessen hatte. Sein neuer Körper war dieses Mal nicht so erdrückend, wie die Letzten. Er sah aus, wie ein gewöhnlicher Stadtbewohner. Er hatte sich einen Körper ausgesucht, den man längst vergessen hatte, so würde er niemandem begegnen, der seine jetzige Hülle wiedererkennen würde. Er würde unauffällig in der Masse untertauchen.

Der Friedhof im Wald war überwuchert gewesen und die Innschrift auf dem Grab hatte vermuten lassen, dass es niemand Lebenden mehr gab, den sich an ihn erinnern würde.

Sein neuer Körper war jung und schmächtig. Er hatte sein Leben bei einer tiefen Schlucht verloren. Er war unvorsichtig gewesen und zu nahe an den Rand getreten, als der vordere Stein sich gelöst und ihn mit in die Tiefen gerissen hatte. Und doch war der Körper so unbefleckt, dachte er. Natürlicher hatte er die einzelnen Wunden heilen müssen, sonst wäre er aufgefallen, doch für den Fall aus einer solchen Höhe hatte der Körper wenig Schaden bekommen.

Dieser Körper war kräftigt, das konnte er spüren. Er hatte eine Weile gebraucht, bis er ihn annehmen hatte können, der Körper hatte sich wie der eines Lebenden gewehrt, doch zum Schluss war er in sich zusammengebrochen.

Vor den grossen Toren blieb er stehen. Die Soldaten musterten ihn und einer trat vor. Sie waren noch alle so jung und unwissend, dachte er voller Hohn, aber bevor er die Hand heben und sie aus den Weg schaffen konnte, tauchte sie an dem Tor auf.

Er legte leicht den Kopf schief. Sie hatte sich kaum verändert, doch er konnte ihre Angst förmlich riechen. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden und die Sommersprossen hatten sich stark vermehrt. Sie sträuten sich über ihr ganzes Gesicht und traten deutlich hervor, obwohl sie um die Nase etwas blass war. Sie trug ein einfaches Kleid und war barfuss.

Sie war wunderschön, dachte er. So könglichlich. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht und er seufzte. Sie war wirklich hier. Dieses Mal würde sie ihn nicht im Stich lassen, da war er sich sicher.

Er hörte nicht hin, als sie mit den Soldaten ein paar Worte wechselte und das Tor endlich aufschwang. Zufrieden über seinen ersten Triumph ging er mit langsamen Schritten an den Wachen vorbei und betrat zum ersten Mal die Stadt, die er solange nicht mehr gesehen hatte.

Seine Mutter sah ihn mit ängstlichem Blick an und sah sich immer wieder um, als sie ohne ein Wort vorauslief. Ihre Schritte waren hastig, als ob sie Angst hatte, dass irgendjemand sie bemerken würde. Dabei war niemand im Dorf, das wusste er. Er hatte die Feier auf der Wiese vom Wald ausgesehen. Sie liefen durch die engen Gassen.

„Mutter", sagte er mit seiner neuen bubenhaftigen Stimme und sie zuckte zusammen, blieb jedoch stehen. Er sah sie lächelnd von der Seite an. „Du hast mich gerufen."

Sie sah blass aus und schluckte. Die Pulsader an ihrer Stirn trat deutlich hervor und er wusste, dass sie es bereute, doch nun war er hier, sie hatte ihn hineingelassen und das war das Einzige was zählte.

Er blickte in die kleinen Schaufenster vor ihm. Darin waren kleine Puppen und Bären ausgestellt, die man in jeder Farbe kaufen konnte. Im spiegelnden Glas blickte ihm sein eigenes Spiegelbild entgegen. Seine schwarzen Haare waren zerzaust, seine Haut blass und seine Augen leuchteten blau. Er war ein junger Mann, in dessen Gesicht sich jedoch noch immer kindliche Züge spiegelten. Sein Körper war mager und die braunen Kleider hingen ihm am Körper. Der Körper hatte gehungert.

Er wirkte so unschuldig. Auch war er einen ganzen Kopf kleiner als seine Mutter, die sich nervös den Schweiss von der Stirn wischte und schwer atmete, als wäre sie Kilometer gerannt.

„Es hat mich gefreut, dass du mich gerufen hast, Mutter", meinte er mit einem dünnlippigen Lächeln.

Bei seinen Worten wimmerte sie leise. „Hör auf", bat sie ihn leise. „Hör auf. Du kannst dich nicht freuen."

Er lachte über ihre Worte und drehte sich zu ihr um. „Weshalb sollte ich mich nicht freuen, Mutter?"

„Das macht dich zu menschlich", zischte sie auf einmal zornig und spuckte vor seine Füsse. „Und du bist nicht menschlich."

Sie wollte ihn wohl provozieren. Mit einem boshaften Lächeln trat er auf sie zu und, obwohl sie grösser war als er, sah er die Angst in ihrem Gesicht wieder aufkeimen. Dicht vor ihr blieb er stehen.

„Ich bin nicht menschlich", sagte er ihr leise mit einem drohenden Unterton. „Aber ich darf fühlen, Mutter. Gefühle machen uns nicht gleich menschlich. Es ist das Herz, das weich wird. Das macht uns menschlich."

Sie schluckte und er trat gelassen zurück.

„Du hältest deinen Teil der Abmachung, oder?", fragte sie nervös und wirkte unsicher.

„Natürlich, Mutter", erwiderte er. „Aber ich muss jetzt jemand suchen. Denk daran, ich kann ab jetzt jeden deiner Schritten beobachten."

Er sah, wie sie sich anspannte.

„Hast du das davor nicht gekonnt?", fragte sie zitternd.

Etwas irritiert über ihre Frage, sah er sie scharf an. „Weshalb meinst du, Mutter? Verheimlichst du mir etwas?"

Seine Stimme klang wieder bedrohlich und sie schüttelte eilig den Kopf. „Nein, rein gar nichts."

„Dann ist gut, Mutter. Entschuldige mich", verabschiedete er sich.

Sie antwortete nicht und er liess sie hinter sich stehen. Gezielt lief er durch die Strassen und sah sich immer wieder um.

Es fühlte sich gut an, endlich frei zu sein. Er musste sich nicht weiterhin verstecken. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Er würde nicht mehr sterben, wenn sein Plan aufging. Er wäre für immer am Leben. Dieser Gedanke gab ihm Stärke. Schon bald würde es so weit sein.

Nachdem er einige Minuten durch die geschlängelten Gassen gegangen war, blieb er vor einem Gasthof stehen. Tanzender Schwan stand auf einem wackelnden Brett über seinem Kopf und er öffnete die Türe. Im Inneren des Gasthofes war es verstaubt und dunkel. Die Läden waren zu und im spärlichen Licht konnte man alte Stühle und Tische ausmachen. Hier war wohl seit langem keiner mehr gewesen. Achtlos stieg er über die umgefallenen Stühle und ging zur alten morschen Treppe, die in den zweiten Stock führte. Mit raschen Schritten stieg er die einzelnen Stufen hoch und kam in einen langen Gang. Auf beiden Seiten gab es Türen. Ohne lang zu Überlegen strebte er auf die letzte Türe rechts zu und öffnete sie.

Die Türe knarrte und im flackernden Licht einer Kerze sah er den Jungen. Er sass auf einem alten Bett und blickte ihn mit ehrfürchtigem Blick an. Das Zimmer war nicht besonders gross. Ausser einem Schrank und einem Bett hatte nichts mehr Platz.

„Vater", flüsterte der Junge und richtete sich hastig auf, „ich habe dich nicht so früh erwartet."

Er lächelte. „Meine Mutter hat mich sehr früh gerufen, Sohn. Unsere Zeit ist nahe."

Die Augen des Jungen leuchteten.

„Was soll ich für dich tun, Vater?"

Er überlegte. „Bring mir den Kopf der Prinzessin vor heute Abend."

Black BirdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt