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Wenn Elwa die Augen schloss, konnte sie das Leben in jeder Planke des Schiffes spüren, in jedem fernen Knarzen des Holzes, in jedem sanften Schaukeln einer ankommenden Welle. Es war ein wohltuendes Gefühl, ein Versprechen von Sicherheit, wie eine Umarmung. Eine gute Weise, sie zu ihrem letzten Ziel zu bringen.

Samirs Atem neben ihr ging ruhig. Er hatte keinen einzigen Albtraum gehabt, seit sie das Schiff betreten hatten und sie war froh darüber, auch wenn die Sehnsucht scharf in ihrem Magen biss, wann immer sie seine friedlichen Züge betrachtete und wusste, wie bald sich alles ändern würde. Sie zwang die Übelkeit hinunter und küsste ihn vorsichtig auf die Stirn, bevor sie sich aus dem Bett schwang und mit bloßen Füßen die Kabine verließ, den Weg zum Deck einschlagend. Der Holzboden unter ihr war warm, auch wenn die Nacht selbst inzwischen frostkalt wurde.

Sie hielt inne, nachdem sie den ersten Schritt nach draußen getan hatte. Frischer Wind schlug ihr ins Gesicht und wahrscheinlich hätte sie wenigstens einen Mantel überwerfen sollen, aber der Himmel erstreckte sich in unendlichen, klaren Weiten über ihr und sie genoss für einen Moment einfach nur das Gefühl, wie winzig und unwichtig sie war in den Augen der zahllosen Sternen. Das Ufer war in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen – vielleicht hatten sie die Gewässer vor dem Abendland bereits verlassen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie am Ziel waren, das hatte der Hölzerne Kapitän versprochen, der kleinen Halbinsel ganz am Rand des Mitternachtslandes.

An Deck war es still. Sie brauchten keine Mannschaft, damit das Schiff fuhr, die Magie des Hölzernen Kapitäns genug. Asifa stand an der Reling, dort, wo sie tagsüber die fernen Ufer noch gesehen hatten, und starrte mit unbewegter Miene hinaus, aber Elwa war nicht wegen ihr nach draußen gekommen.

Ihre nackten Füße waren nahezu lautlos auf den Planken, aber der Hölzerne Kapitän drehte sich trotzdem nach ihr um, bevor sie ihn erreicht hatte, wo er wie eine Statue im Bug stand, seine eigene Galionsfigur. Dort, wo der Kiel das Wasser durchschnitt, zerstoben die regelmäßigen Wellen unter den Schlägen von Dunjas Schwanzflosse. Elwa sah das einfache Glück von Kapitän und Meerjungfrau, wenn sie so gemeinsam über die Wellen flogen und ließ das wehmütige Ziehen in ihrer eigenen Brust geschehen.

„Etwas liegt dir auf dem Herzen", sagte Galateos. Seine Stimme war tief und wohlklingend, wie ein teures Instrument. Viel sprach er nicht, zufrieden mit den tausend Gesten, die sein Schiff für ihn machte, aber seine Ruhe war so bodenlos, dass Elwa manchmal kaum glauben konnte, dass er wirklich nicht nur eine Figur aus den Märchen war.

„Es ist das zweite Tor, zu dem wir fahren", sagte Elwa. „Du hast Samir gesagt, dass es schwerer wird, je tiefer die Seele zieht."

Galateos nickte ruhig.

„Du weißt davon, ohne je auf der anderen Seite der Tore gewesen zu sein", fuhr sie fort. „Die Schwierigkeit liegt nicht auf dem Weg dorthin, sondern dahinter."

Dieses Mal sah er sie nur lange an, dann kippte sein Kopf kaum merklich zu Asifa, an deren Haltung sich wenig geändert hatte, außer dass sie die Reling fester mit den Fingern umklammerte, klar in Hörweite.

„Vielleicht sollten wir meine Kajüte aufsuchen für dieses Gespräch", sagte er sanft. Er hatte Samir keine Einzelheiten geschildert, aber die Hinweise waren alle da gewesen. Vielleicht hatte Samir sie sich mit Absicht nicht weiter durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht hatte er längst einen Plan. Vielleicht war er so fokussiert auf das Leben, dass all die versteckten Versprechen von Tod ihm entglitten. Sie hoffte darauf, dass es das letztere war.

„Nein", sagte sie. „Sie kann zuhören. Ich vermute, sie weiß ohnehin längst, worum es geht."

Es war hell genug, dass sie Asifas schwaches Lächeln aus den Augenwinkeln erkennen konnte und es bestärkte sie selbst. Sie waren Verbündete in ihren Taten und in ihrem Vorhaben, Samir das eine zu verschaffen, was er je wirklich für sich selbst gewollt hatte.

Dornen - Das Königreich in FlammenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt