41 - Der See

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Sie hatte nicht erwartet, dass es so wehtun würde. Sie hatte nicht erwartet, dass es ausgerechnet jetzt geschehen würde und erst recht nicht, nachdem nur Minuten zuvor alles so perfekt und richtig und passend gewesen war wie schon lange nicht mehr. Aber sobald er von seinem Traum begonnen hatte, war ihr der Ausgang des Gesprächs klar gewesen. Alles, was sie tun konnte war, sich immer und immer wieder das Versprechen an Asifa durch den Kopf gehen zu lassen, ihre Worte.

Selbst wenn er dir das Herz bricht.

Nein, sie hätte sich davon nicht so aus der Fassung bringen lassen sollen. Dieser Tag war immer nahe gewesen, sie hatte sich nie etwas vorgemacht. Nur gehofft. Ausgeblendet. Verschoben. Davon geträumt, dass die unterschwellige, nie ausgesprochene Wahrheit doch noch eine andere war als sie dachte, dass er ihre Nähe mehr zu schätzen gelernt hatte als die Liebe eines Toten. Es war kein freundlicher Gedanke und er verursachte ihr noch immer Übelkeit, auch jetzt, wo es bereits vorbei war.

Ich liebe dich. Aber ich liebe ihn mehr.

Wenn es doch nur anders herum gewesen wäre. Man musste einen Menschen nicht mehr lieben als alles andere, um ihn retten zu wollen, wusste Samir das? Sie dachte es, während sie etwas abseits der schlafenden Männer saß, gerade nah genug, dass sie im Widerschein der niedergebrannten Kohlen ihre Worte an König Maddeo formulieren konnte, trotzig und aufmüpfig. Als wäre sie nur das junge Mädchen, das nichts von der Welt verstand. Nur einen Moment später hielt sie sich selbst ab, diesem Pfad weiter zu folgen. Sie war verletzt, weil sie ihm so viel gegeben hatte, aber dennoch schuldete er ihr nicht, sie genauso zu sehen wie sie ihn. Er war der erste Mann, den sie geküsst hatte, der erste Mann, mit dem sie das Bett geteilt hatte, der erste Mann, den sie geliebt hatte, und das hatte sie tiefer fallen lassen. Sie hatte von ihm etwas bekommen, was sie nirgendwo sonst gefunden hatte und ihre aufgewühlten Emotionen hatten es mit der Ewigkeit verwechselt.

Ihre Gedanken drehten sich schneller und schneller im Kreis und sie konnte sich kaum auf den Brief konzentrieren. Es ärgerte sie, so aus der Fassung gebracht worden zu sein. Es ärgerte sie, dass sie seine Finger noch am ganzen Körper spüren konnte, dass sich die Haare an ihren Armen aufstellte, wenn sie an ihr letztes Zusammensein dachte, bevor er gesprochen hatte ...

Es war ein Glück, dass sie keine Müdigkeit verspürte, nicht auf herkömmliche Weise zumindest, denn so waren die langen Stunden der Nacht gerade genug, dass sie bis zum Erwachen der Männer einige verständliche, eindringliche Zeilen an den König zustande gebracht hatte. Da war ein Moment gewesen, als ihre Gedanken endlich von Samir hatten ablassen können, aber dafür war sie zurück in die Nähe der Dornen gezogen worden, hatte ihr dunkles Flüstern gefühlt, die Vorahnungen ... das Ende mit Samir tat weh, aber es war nicht halb so erstickend wie diese andere Wirklichkeit, in der die Dornen sie wiederhaben wollten. Der Schmerz lenkte sie von der Angst ab, aber solange er frisch war, lähmte er sie dennoch fast auf die gleiche Weise.

„Der Stützpunkt liegt auf der anderen Seite", sagte Cristian knapp, nachdem er aufgewacht war und sich kurz die Hände über dem Feuer gewärmt hatte. Die Nächte wurden kühler, in den Winden des Herbstes flüsterte schon der nahende Winter. „Brecht jetzt auf und wir werden morgen Abend an der Spitze des Sees wieder aufeinander treffen."

Er presste die Lippen zusammen, ohne seine Missbilligung zu verstecken. Eigentlich hatte er das Dorf mit dem kleinen Armeestützpunkt ganz vermeiden wollen und deswegen die morastige, schwerer zu begehende Seite des langen Sees für ihren Pfad ausgewählt, aber Elwa und Samir hatten ihm versichert, den Dorfbewohnern keinerlei Hinweise auf die Umstände ihres Auftauchens zu geben. Aus einem ihr noch immer schleierhaften Grund hatte er nachgegeben. Vielleicht, weil er froh war, sie für fast zwei Tage loszuwerden.

Samir war lautlos hinter sie getreten und sie fühlte das wilde Aufbegehren ihres Herzens darüber, wie nah er ihr plötzlich wieder war, wie ruhig er dabei wirkte. Als wäre nie etwas geschehen.

Dornen - Das Königreich in FlammenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt